Die Pallanik-Ahul und ihre Umwelt

Die Pallanik-Ahul und ihre Umwelt*

(Vom Märcheenrzählen im Volk)


Es ist gerade 50 Jahre her, daß ich als Studentin der Universität Wien auf Märchensuche ging, um Menschen kennenzulernen, die noch aus der mündlichen Überlieferung schöpften. Märchen waren mir von Kind auf lieb und vertraut gewesen. Als ich mich aber dann später mit der Märchenforschung zu beschäftigen begann, merkte ich, daß die Märchen mehr waren als Geschichten für kleine Kinder. Die Fragen nach der Entstehung, Bedeutung und Überlieferung des Märchens fesselten mich immer wieder, so daß ich sie zum Gegenstand meiner Dissertation wählte. Mir schwebte zunächste eine große Wesensuntersuchung des Märchens vor. Aber je mehr ich mich in theoretische Abhandlungen vertiefte, desto bescheidener wurde ich. Was gab es da nicht für verschiedene Lehrmeinungen, und wie sehr widersprachen die Forscher einander!
Ausgangspunkt für die meisten dieser Forscher waren die gedruckten Märchensammlungen, die im Erzählstil und in der Auswahl auf den Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen" fußten, jenem Sammelwerk, dessen volle Bedeutung erst in der Gegenwart wieder richtig gewürdigt wird und das am Anfang jeder wissenschaftlichen und künstlerischen Bearbeitung der Volksmärchen steht. So wie einst die Brüder Grimm beschloß ich, selber Märchen aufzuspüren, denn nur die Menschen, die selber noch Träger der Überlieferung waren, konnten mir sagen, wie sie zu ihren Märchen standen, und nur von ihnen konnte ich lernen, in welcher Form die Märchen erzählt wurden.
Jetzt ist es durchaus üblich, die mündliche Überlieferung mit Tonbändern aufzunehmen, aber Rundfunk und Fernsehen haben den Alltag so verändert, daß die Wiederholung alten Erzählgutes zurückgedrängt worden ist. Das aktuelle Geschehen steht im Vordergrund, so daß heute nur noch ganz vereinzelt alte Erzählgemeinschaften anzutreffen sind. Wenn man aber von der Gegenwart Schlüsse auf die Vergangenheit zieht, irrt man. Vor 50 Jahren gab es nur wenige Sammlungen, in denen die Herausgeber auch Ober die Gewährsleute berichteten, denen sie ihre Aufzeichnungen verdankten. Schon die Brüder Grimm hatten auf die alte Marie, die treue Kinderfrau in der Sonnenapotheke in Kassel, und auf die Katharina Dorothea Vieh-männin, eine Schneidersfrau aus Niederzwehren, kurz hingewiesen. Wisser, Bunker, Grudde, Henßen, Zender und Merckelbach-Pink berichteten ein wenig über ihre Sammelarbeit, aber es war herzlich wenig, was man aus Märchenbüchern über die Erzähler erfahren konnte. Besonders beeindruckte mich ein Odenburger Straßenkehrer, der unvergelßiche Tobias Kern, der Bunker seine Märchen erzählte, die dieser auf 436 Druckseiten in heanzi-scher Mundart herausgab. Zehn weitere Geschichten veröffentlichte Bunker in einer Zeitschrift. Tobias Kern hatte nie das Glück gehabt, lesen und schreiben zu lernen. Wer behauptet, Leute aus dem Volk könnten nur richtig weitergeben, was sie gelesen hätten, wird hier also eines Besseren belehrt. Das Gegenteil ist richtig: Vollendetes Erzählen ist eine Kunst, die eine natürliche Begabung und ein hervorragendes Gedächtnis zur Voraussetzung hat und sich nur in einem Kreis von dankbaren Zuhörern entwickelt, dann allerdings umso besser gedeiht, je weniger sie sich auf eine schriftliche Fixierung stützt. Es ist eine vorgefaßte falsche Meinung, daß einfache Leute im Volk nicht erzählen können. Wann immer ich nach meinen Märchenfahrten Märchen erzählte, hielt ich mich wortgetreu an die Erzählform meiner besten Erzähler, denn ich hätte es nicht besser machen können, und der Beifall, den ich bei meinen Zuhörern fand, bewies mir, wie unvergleichlich lebendig diese Erzählungen sind, vor allem wenn man die mundartlichen Aufzeichnungen in allen Einzelheiten wiedergibt.
Leider sind die Feinheiten der Mundart nur in einem begrenzten Raum voll zu erfassen, und mein 1939 erschienenes Buch „Eine deutsche Märchenerzählerin aus Ungarn" richtete sich daher an einen beschränkten Leserkreis. Die Pallanik-Ahnl, meine beste Erzählerin, soll nun mit diesem Buch allen bekannt gemacht werden, die Märchen lieben. Zugleich soll ein Bild der Umwelt entstehen, aus der die Märchen stammen, so wie ich sie damals vor 50 Jahren erlebte.
Ich wußte zunächst nicht, wie ich es anfangen sollte und wo ich suchen mußte, um noch Märchen zu finden. Da verdanke ich es Dr. Karl Haiding, daß er mich auf eine Forschungsfahrt in das Schildgebirge in Ungarn mitnahm und mich in diesen damals noch unversehrten deutschen Sprachinseldörfern in die Geländeforschung einführte. Das war meine erste Begegnung mit dem lebendigen Volksmärchen, und es war ein Wagnis, daß ich schon nach dieser ersten Märchenfahrt meine Doktorarbeit „Das Märchen und sein Erzähler" niederschrieb. Heute weiß ich, daß sie in manchem unfertig und unzulänglich ist. Aber in wesentlichen und bedeutenden Fragen müßte ich auch heute nichts daran ändern. Ja. die Erfahrung bestätigte später sogar, was ich damals nur ahnte. Der Zweite Weltkrieg hat dann meine Märchenfahrten in die deutschen Sprachinseldörfer in Ungarn unterbrochen, und das, was einst lebendige Gegenwart war, ist heute nur noch ein Stück liebenswerte Vergangenheit.
Bei den Deutschen in Ungarn waren damals die guten Erzähler noch orts-bekannt. Es war nicht überall gleich. Ich konnte je nach der Lage der Dörfer feststellen, daß die Märchenfreudigkeit der Bewohner eines Dorfes zunahm, je weiter es von den großen Verkehrswegen und Städten entfernt war. Je näher die Dörfer an Eisenbahnlinien, Durchzugsstraßen und an die größeren
Orte heranrückten, desto uneinheitlicher und zerrissener waren sie in ihrem Gepräge, desto aufgeschlossener waren sie für modische Einflüsse und desto weniger wollten sie mit dem überlieferten Erzählgut zu tun haben. In demselben Maße, in dem sie städtische Kleidung, Schlager, moderne Tänze und seichte Unterhaltungsromane höher stellten als ihre eigene Tracht, ihr altes Volkslied, ihre Tänze und ihr Erzählgut, gaben sie auch ihr angestammtes Volkstum auf und neigten leicht zur Magyarisierung.
In den Sprachinseln sah ich „fortschrittliche" Dörfer neben ganz urtümlichen. Der „Fortschritt" im Sinne vom Aufgeben der ererbten Lebensführung und Übernahme der zivilisatorischen Einflüsse der Städte war nicht immer ein Aufstieg. Im Gegenteil, wirklich gesund und stark in ihrem kulturellen Eigenleben waren nur die urtümlichen Dorfgemeinschaften.
Es kam dabei natürlich auch auf die Lebensbedingungen der Dörfer an. Es gab kleine abgeschlossene Dörfer, die nicht urtümlich, sondern rückständig und primitiv waren. Diese Dörfer hatten nicht genug Ackerland. Es fehlte ihnen an einem Lebensraum, in dem sie sich entfalten konnten. Daher ver-proletarisierten die Bauern. Krankheiten zerrütteten ihre Gesundheit, so daß diese Dörfer schon damals Spuren des Verfalls zeigten. Die Wellen der Aussiedlung nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs führten dazu, daß andere ehemals blühende Schwabendorfer einem völligen Strukturwandel unterworfen wurden.
Vor 50 Jahren lernte ich noch kleine abgeschlossene Siedlungen kennen, in denen die Deutschen zwar arm, aber gesund und kräftig, in denen sie bauerlich geblieben waren und darum an dem Erbe festhielten, das sie aus der alten Heimat im angrenzenden deutschen Sprachraum nach Ungarn mitgebracht hatten.
Was im deutschen Mutterland in einem zeitlichen Nacheinander abgerollt war, konnte man hier nebeneinander beobachten: die verschiedensten Stufen der Entwicklung von völliger Unberührtheit von städtischen Einflüssen über zunehmende Überfremdung bis zum vollkommenen Aufgeben der überlieferten Werte. Man konnte auch die Ursachen prüfen und erkennen, wie sich eines aus dem anderen ergab. So stand und steht bis zu einem gewissen Grad die Sprachinselforschung nicht nur im Dienst der Sammelarbeit, um überliefertes Volksgut zu bergen und vor dem Vergessen zu retten, sondern aus dem Vergleich der verschiedenen Zustände in den Dörfern ergibt sich eine Entwicklungsreihe, die zeigt, wie es auch bei uns, im geschlossenen deutschen Sprachraum, zur gegenwartigen Lage gekommen ist. Bei uns ist das mündlich überlieferte Märchen selten geworden, und das Buchmärchen dient fast ausschließich der Unterhaltung von Kindern. Dazu sind noch Schallplatten und Märchenkassetten gekommen, die auf Knopfdruck das mündliche Erzählen ersetzen. Ursprünglich hat es aber nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt echte Märchenerzähler gegeben, und Erwachsene waren ihre eigentlichen Zuhörer.
Eine Reihe von Forschern hat sich mit der Frage beschäftigt, warum die Märchenüberlieferung fast vollständig abgerissen ist. Es wurden die ver-
schiedensten Stimmen laut: „Ach was", sagte der eine, „es ist doch klar, daß das Volk keine Märchen mehr erzählt. Es waren immer nur ein paar Dichter, die Märchen erfunden haben, und Erzähler haben sie von ihnen übernommen. Wer macht sich schon die Mühe, lange, kunstvolle Märchen zu erzählen, wenn man sie nachlesen kann? Was soll uns heute diese Wunderwelt, die mit den Tatsachen in Widerspruch steht? In einer Zeit des Massentourismus ist es auch nicht notwendig, von einer fremden, exotischen Welt zu träumen."
„Das Märchen ist bei uns nie recht heimisch geworden", sagt ein anderer. „Es muß uns nicht leid tun, wenn es aus unserem Erzählschatz verschwindet." Im Zeitalter des Fernsehens haben viele das Zuhören verlernt und bevorzugen den bunten Wechsel von Bildern, die nicht in der Wiederholung ihren Reiz sehen, sondern immer Neues bringen. Erst seit der Psychologe Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen" darauf hingewiesen hat, was für eine Rolle das Märchen in der geistigen Entwicklung eines Kindes spielt und wie gerade das wiederholte Erzählen notwendig ist, um Urängste zu überwinden, hat man den Wert der Märchen wiedererkannt, und es ist an der Zeit, auch die ursprünglichen Hüter der Überlieferung, die Märchenerzähler im Volk, ins rechte Licht zu rücken.
Es ist die Aufgabe dieses Buches zu zeigen, wie diese Erzähler in der Gemeinschaft verwurzelt waren, aus der sie stammten, wie Märchen aussahen, die, unabhängig von einer schriftlichen Vorlage, von einer begabten Erzählerin überliefert wurden, und daß es kostbare Schätze sind, die gerade noch im rechten Augenblick geborgen werden konnten, ehe sie endgültig im Dunkel des Vergessenwerdens versanken. Die PallanikAhnl war solch eine Märchenerzählerin, den Gewährsleuten der Brüder Grimm und dem Tobias Kern in der Meisterschaft ihres Erzählens ebenbürtig. Von ihrem Schicksal und von ihrer Stellung in der Dorfgemeinschaft soll dieses Buch berichten. Ihre Märchen aber sollen für sich selber sprechen, und ich hoffe, daß ein kleiner Kunstgriff genügt, um diese schriftdeutschen Übertragungen der ursprünglichen Mundartform ein wenig anzugleichen: Wer beim Vorlesen an die Stelle der schriftdeutschen Mitvergangenheitsformen wie „ging", „rief, „sang" usw. die Vergangenheit „ist gegangen", „hat gerufen", „hat gesungen" usw. setzt und an spannenden Stellen die Gegenwart verwendet, kommt der gesprochenen Erzählung näher und wird merken, wieviel lebendiger alles klingt.
Hauptaufgabe dieses Buches ist es, ein Stück warmes Leben einzufangen. Wenn mir das gelingt, bin ich davon überzeugt, daß ich dadurch der Wissenschaft etwas gebe, das für die Erkenntnis des Wesens des Erzählgutes ebenso wichtig ist wie die tiefgründigsten Untersuchungen an toten Buchmärchen am Schreibtisch der Studierstube. Es sagt sich so leicht: „Ein Märchen ist aus dem Volksmond aufgeschrieben." Abgesehen davon, daß im Begriff Volksmund auch schon gar nichts über den einzelnen Erzähler enthalten ist, bleibt noch die Frage offen: Wie geht es beim Aufschreiben zu? Wie verhält sich die gedruckte Fassung zur mündlichen Rede?
In der Methode der Märchensammlung hat sich vieles geändert. Brentano, der die Brüder Grimm zum Märchensammeln anregte, hat es sich noch recht einfach gemacht. Er schrieb nur ganz wenige Schlagworte auf, die den Gang der Handlung in großen Zügen festhalten sollten. Aus den Schlagworten ergänzte er dann aus eigenem die Erzählung. Dabei kam es auch vor, daß er den Zusammenhang vergaß, wie bei den sechs bis acht Märchen, die ihm eine alte Märchenfrau erzählte. Aus Märchenmotiven gestaltete er Kunstwerke, in denen er seine freie Fantasie walten lieg.
Die Brüder Grimm hielten es schon viel genauer mit der Aufzeichnung. Sie ließen sich die Geschichten von der Viehmännin zweimal erzählen, zuerst ganz frei, dann noch einmal langsam, so daß sie fast wörtlich mitschreiben konnten. Bei seiner Übertragung ins Schriftdeutsche hat Wilhelm Grimm die Form der Märchen immer wieder ausgefeilt, bis sie zu jenen feinen, kin-dertümlichen Kunstwerken worden, als die sie heute noch die ganze Welt begeistern. Sein Stil war es auch, der die Sammler späterer Zeiten entscheidend beeinflußte.
Die gegenwärtige Märchenforschung legt größtes Gewicht auf eine möglichst wort- und lautgetreue Wiedergabe von Volkserzählungen. Nur ein Tonband kann diese Forderung ganz erfüllen. Die Umschrift in ein gängiges Lautsystem ist zwar wissenschaftlich durchaus verringert aber den Leserkreis so sehr, daß Kinder damit überhaupt nichts mehr anfangen können. Selbst erwachsene Laien tun sich schwer, phonetisch getreue Texte zu erfassen.
Der moderne Weg - Aufzeichnung einer Volkserzählung durch eine Tonbandaufnahme, Wiedergabe durch eine Schallplatte oder eine Kassette -kann derzeit ohne Mühe beschritten werden. Ich bin Professor Künzig vom Institut für ostdeutsche Volkskunde in Freiburg dankbar dafür, daß er die erste authentische wissenschaftliche Schallplatte von den Märchen und Liedern herstellen ließ, die er von den blinden Mädeln im Kreis Eschwege aufzeichnete. Später folgten noch drei Langspielplatten ihrer Märchen. Die beiden Blinden waren in ihre neue Heimat umgesiedelt worden. Ich hatte sie in ihrem Heimatdorf Gánt 1938 kennengelernt und von ihnen in meinem Märchenbuch „Es war einmal" erzählt. Professor Künzig hatte die Listen der Ausgesiedelten durchstudiert und die beiden Blinden und auch noch andere meiner Gewährsleute nach ihrer Umsiedlung wiedergefunden. Er half mir auch, die jüngere Tochter der Pallanik-Ahnl wiederzufinden, aber davon soll später die Rede sein. Auch ich verwende jetzt Tonbandaufzeichnungen, wenn ich Volkserzählungen aufnehme.
Vor 50 Jahren gab es nur wenige Pioniere, die mit den damals noch sehr schweren Magnetophonapparaten umgehen konnten, und auch wenn ich einen solchen besessen hätte, hätte ich ihn nicht stundenlang auf einsamen Wegen in die entlegenen Dörfer im Schildgebirge tragen können. Auf den Märchenfahrten waren wir ja immer zu Fuß unterwegs, ausgerüstet mit einem Rucksack und einem sehr geringen Barvermögen. Zum Glück konnte ich sehr schnell stenografieren, und es war mir durchaus möglich, wortwörtlieh beim Erzählen mitzuschreiben, ohne den natürlichen Fluß der Rede zu hemmen.
Es gibt wohl Erzähler, denen es nichts ausmacht, wenn sie sehr langsam erzählen müssen, und die trotzdem frisch und natürlich erzählen. Ein solch geduldiger Erzähler, der seine Märchen stundenlang langsam diktieren konnte, war Tobias Kern. Es war für ihn ein Sonntagsvergnügen, bei einem Glas Wein zu erzählen, und Bunker schrieb alles mit seiner schönen Lehrerschrift nieder. Aber das war mühsam. Der Vorteil dabei war nur, daß man die Mundart genauer durch besondere Lautzeichen festhalten konnte. Auch ich mußte mich zuerst an die Mundart gewöhnen, denn ich hatte bisher nur Schriftsprache geschrieben. Es dauerte eine Weile, bis ich mir eine Art Mundartkurzschrift zurechtgelegt hatte. Ich mußte eine ganze Anzahl Kürzel für die in der lebendigen Rede so gebräuchlichen Wendungen wie „hat er g'sagt", „sagt er" usw. erst erfinden. Mit den modernen Hilfsmitteln hat man Zeit, die Erzähler ungehindert zu beobachten, und kann später in aller Ruhe die Aufnahmen abhören und nachschreiben. Noch besser wäre es, Tonfilmaufnahmen von Märchenerzählern zu machen, denn die .Worte allein sagen nichts über das Mienenspiel, die Gebärden und die gesamte Ausdruckskunst. Jedes Buch kann nur den Wortlaut wiedergeben. Der Leser kommt dadurch um einen großen Genuß. Ich habe bei jedem Satz noch den Klang der Stimme der Pallanik-Ahnl im Ohr, ich weiß, wann sie langsam und geheimnisvoll sprach, daß wir alle gepackt wurden von der Wucht des Geschehens. Ich sehe ihre gütigen Augen an manchen Stellen aufleuchten und höre ihr herzliches, warmes Lachen. Das läßt sich durch Worte allein nicht einmal andeuten. Aber dafür habe ich mich im Wortlaut zu höchster Treue verpflichtet gefühlt. Die Mundart allerdings habe ich aufgegeben. Sie war in den Sprachinseldörfern in Ungarn nicht einheitlich. Jedes Dorf hatte Seine besonderen, feinen Unterschiede, und gerade in den Dörfern, von denen hier die Rede ist, überschichteten sich die verschiedenen Dialekte. Die Pallanik-Ahnl stammte aus einem Dorf, in dem man „Muida", „zui", „Kuih" sagte. In Gestitz, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte, herrschten Formen wie„Muada", „zua", „Kuah" vor, und sie hatte sich schon selbst an diese Formen gewöhnt. Es kam aber auch vor, daß sie in einem Satz sagte: „Muida, mach die Tür- zua!" Jedenfalls sprach sie eine donaubayrische Mundart.
Wenn man Märchen sammeln will, muß man an den richtigen Stellen suchen, wo die Volkserzählungen noch nicht ausgestorben sind, aber selbst in Erzählgemeinschaften wird man keinen Ertrag haben, wenn es einem nicht gelingt, menschlich an die Erzähler heranzukommen. Das ist die Voraussetzung für alle Sammelarbeit, sonst erreicht man gar nichts. Manch einer, der mit den besten Vorsätzen zu einem Märchenerzähler gekommen ist, hat gar nichts herausbringen können. So ist es schon Lotte Grimm, der Schwester der Gebrüder Jakob und Wilhelm, ergangen, und Wilhelm weiß auch den Grund: „Daß die Lotte keine Märchen mitgebracht hat, ist bloß ihre Schuld; sie ist nicht recht und vertraulich mit der Frau umgegangen. An
Brentano hat sie sechs bis acht erzählt." Ich darf vielleicht aus meinen eigenen Erfahrungen berichten. Da sieht man am besten, wie es beim Sammeln zugeht.
Es war auf meiner ersten Sammelfahrt. Ich hatte es schon gelernt, daß man zunächst ganz unauffällig nach den guten Erzählern fragen muß, wenn man in ein Dorf kommt. Tatsächlich wurden uns in Untergalla ein paar Namen von ortsbekannten Erzählern genannt. Darunter war auch immer die Waberl-Basl, die Barbara Hermann. Wir teilten es uns so ein, daß ich die Frau aufsuchen und aushören sollte. Mein Herz klopfte. Es war die erste Märchenerzählerin, die ich kennenlernen durfte.
Kaum stand ich ihr zum erstenmal gegenüber, platzte ich gleich mit meiner Frage heraus, ob sie mir nicht eine ihrer Geschichten erzählen könnte. Sie maß mich mißtrauisch von der Seite und war sehr zurückhaltend. Geschichten? Sie wisse keine. Da müsse ich schon zu anderen gehen, die es besser verstünden. Überdies habe sie keine Zeit. Ihr Schwiegersohn sei sehr streng. Wenn sie das Essen nicht zur richtigen Zeit fertig habe, werde er böse. Sie sei in Eile. Ich war damals noch sehr unerfahren in diesen Dingen und schon nahe daran, die Flinte ins Korn zu werfen. Vielleicht wußte sie wirklich keine Geschichten? Aber dann versuchte ich es noch einmal, aber diesmal auf Umwegen. Ich sagte kein Wort mehr über die Geschichten und plauderte über ganz alltägliche Dinge. Dabei sah ich darauf, daß das Feuer im Herd nicht ausging, legte Holz nach, wodurch mein Ansehen in den Augen der Waberl-Basl nicht unerheblich stieg. (Später hat sie es mir als höchstes Lob versichert, ich würde mich ganz trefflich zu einem Dienstmädchen eignen. Ich war sehr stolz darauf, denn das bewies mir, daß sie mich für voll nahm.)
Sehr langsam kam die anfangs stockende Unterhaltung in Fluß. Endlich kannte ich schon das Schicksal jedes einzelnen Familienangehörigen, hatte auch schon ihre Lichtbilder mit der gebührenden Ehrfurcht bewundert. Nun rückte ich wieder mit meiner Frage heraus, ob sie denn nicht Geschichten kenne. Recht lang sollten sie sein, und ein Königssohn sollte darinnen vorkommen.
Die Waberl-Basl zögerte noch immer. Aber nun war es nicht mehr die Scheu vor der Fremden, sondern ihr großes Pflichtbewußtsein: Sie wollte ihre Arbeit nicht im Stich lassen. Ich mußte mich um einen Bundesgenossen umsehen. Ich steckte mich hinter die Tochter, und unserem beiderseitigen Zureden gelang es endlich, daß die alte Frau ihrer Tochter das Kochen überließ und sich selber mit einer Näharbeit zurechtsetzte. Bald geriet sie in einen solchen Eifer, daß ihr die Näharbeit vom Schoß glitt; sie war selber gefangen in ihrer Erzählung.
In jedem Wort lag ihre ganze Seele. Es war für mich ein Erlebnis, der alten Waberl-Basl zuzuhören. Sie erzählte mir später Tag für Tag. Sie hatte sich bald daran gewöhnt, daß ich mitschrieb. Ja, sie war stolz darauf, daß ich ihre Geschichten des Aufschreibens wert hielt. Sie konnte nicht genug staunen, wenn ich ihr meine Nachschrift zeigte. Was? Das konnte ich alles wie-
der lesen? Wie gelehrt mußte ich doch sein, daß ich aus solchen „Kraxen" wieder einen Sinn entziffern konnte! Und sie war überglücklich, als ich ihr einmal Wort für Wort vorlas, was sie mir eben erzählt hatte. Nein, daß sie das noch erleben durfte, daß ihre alten Geschichten zu solchen Ehren kamen!
Ich denke oft und gern an die alte Waberl-Basl. Das Bild dieser ersten Märchenfrau, die mich mit ihren Geschichten beschenkte, steht auf meinem Schreibtisch, und während ich das hier schreibe, sieht sie mir mit ihren sonnigen Augen zu, und um ihren Mund spielt immer ein feines, stilles Lächeln.
Ich bin seither klüger geworden, und wenn ich nun in das Haus eines Erzählers komme, sage ich kein Wort von den Märchen, bevor ich nicht ganz das Vertrauen des Erzählers gewonnen habe. Gesprächsweise erzähle ich von Meiner Ahnl, die mir als Kind so prächtige Geschichten erzählt hat. Ich hatte sie nur leider vergessen. Aber das wüßte ich noch: recht lang seien sie gewesen, und der starke Hansl habe darinnen eine Rolle gespielt.
Ich hatte tatsächlich eine Großmutter, die ganz wunderbar Erzählen konnte und die so schlagfertig war, daß sie auf alles eine lustige Antwort und Lebensweisheit wußte. Nur erzählte sie keine altüberlieferten Märchen mehr, nur Sagen, Schwanke und Sprüche. Meine bewährte Märchengroßmutter weiß aber zufällig immer jene Geschichten, die auch der Erzähler überliefert hat. (Ich habe mich im Dorf vorher schon genau erkundigt, wie Seine Märchen ungefähr aussehen.)
Es ist mir noch kein Erzähler untergekommen, der mir dann nicht sofort und voller Freude seine Märchen erzählt hatte, und keiner hat es mir übelgenommen, wenn ich mein Heft aus der Tasche zog und mitzuschreiben begann. Ich habe mich selber immer wieder darüber gewundert, wie selbstverständlich es die Erzähler hinnahmen, daß ich ihre Geschichten aufschrieb. Sie empfanden es durchaus nicht als Zudringlichkeit, sondern freuten sich darüber, daß mir ihre Geschichten so gut gefielen, und mit manch einem habe ich mich wirklich angefreundet.
Viel leichter ist es natürlich, mit einem Kassettenrecorder zu arbeiten. Da kann man es so anstellen, daß der Erzähler es gar nicht bemerkt, wann eine Aufnahme beginnt. Wir machten uns einmal den Spaß, dem alten Steinbauer in Kärnten das vorzuspielen, was er uns eben erzählt hatte. Er war zuerst der Meinung, es hatte niemand gerade das Radiogerät eingeschaltet, und freute sich darüber, daß man auch im Rundfunk eine Geschichte sendete, die der seinen so sehr glich. Als wir ihn darüber aufklärten, daß das seine eigene Geschichte war, die er hörte, meinte er zwar: „Wann i das aneahnter gwißt hiatt, hiatt i dás Köterle ábegekihrt" (das Kästchen hinuntergeworfen), aber er beruhigte sich bald über den Spuk und war sogar nicht wenig stolz darauf.
Es ist die Voraussetzung für jede Sammelarbeit, daß der Erzähler Zutrauen und eine menschliche Beziehung zu dem fremden Menschen gewinnt, der da aus der Stadt zu ihm kommt und ihn um seine Märchen fragt. Hat man den Erzähler zum Sprechen gebracht, dann ist es leicht, mehr aus ihm herauszubringen, denn jedem echten Erzähler ist Erzählen inneres Bedürfnis.
Nur die Nichtkönner sträuben sich lange, vor allem, um ihre Unwissenheit und ihr mangelndes Geschick zu verbergen, und wenn man sie doch zum Sprechen bringt, erzählen sie unzusammenhangende Bruchstücke, die keinen rechten Sinn ergeben. Der wirkliche Märchenerzähler erzählt gern und ohne viel Federlesens, da er ja auch sonst daran gewöhnt ist, zu erzählen, wenn er nur einen aufmerksamen Zuhörer findet. Nur wenn er merkt, daß seine Zuhörer ihn und seine Geschichten nicht ernst nehmen oder ihn gar auslachen, ist er durch nichts zum Erzählen zu bewegen.
Ich habe es nie gewagt, meinen guten Erzählern für ihre Geschichten Geld anzubieten; sie hätten es als eine schwere Beleidigung empfunden. Nur die schlechten Erzähler wollten aus ihren Erzählungen Geld herausschlagen. Ich erinnere mich nur an einen begabten Erzähler, den alten Benediktschuster aus Deutschhütten - er war übrigens der einzige Gemeindearme im Dorf-, der sich durch seine Redegewandtheit ein gutes Essen und Trinken verdienen wollte. Dagegen wäre ja weiter nichts einzuwenden gewesen, und ich habe ihn gerne eingeladen. Aber er war auch sonst ein verlotterter, unangenehmer Geselle, der neben echtestem Märchengold die widerwärtigsten Zoten vorbrachte. Die guten Erzähler schätzten ihre Märchen viel zu hoch ein, als daß sie sich dafür hätten bezählen lassen.
Mit der Pallanik-Ahnl hatte ich ein ganz besonderes Glück. Als ich mit meiner Freundin Lide Hildenbrandt nach Gestitz kam und nach einer Nachtherberge suchte, führte uns der Pallanik-Ahnl (Großvater) in das Haus seiner Tochter Lisi. Obwohl das ältere Mädchen der jungen Frau gerade Röteln hatte, entschlossen wir uns doch zu bleiben. Es war schon spät, und Frau Lisi gefiel uns vom ersten Augenblick an. Wir hatten im Nachbardorf gehört, daß sich der Pallanik-Ahnl gut aufs Erzählen verstand, und deshalb hatten wir zuerst bei ihm angefragt, wo wir übernachten könnten. Wir waren froh, daß es sich so schickte, daß wir in seiner nächsten Verwandtschaft ein Nachtquartier fanden.
Am Abend saßen wir lange mit unseren jungen Hauswirten beisammen. Das Gespräch ergab, daß der Ahnl wirklich gut erzählen konnte, daß aber die Ahnl ihm in nichts nachstand, ja, daß ihre Geschichten ihren Kindern noch besser gefielen als die des Vaters. Frau Lisi selber brachte uns zu ihrer Mutter. Es dauerte kaum zehn Minuten, da waren wir mitten im Erzählen.
Gleich als ich sie zum erstenmal sah, wußte ich: das ist ein einfacher, froher Mensch, der Güte und Warme ausstrahlt. Frau Lisi hatte ihr schon von uns erzählt, so daß wir nicht als Fremde zu ihr kamen. Sie hatte ihre Scheu bald überwunden und sah uns mit ihren gütigen braunen Augen voll ins Gesicht. Sie war nicht schön, die Pallanik-Ahnl. Alter und Krankheit hatten tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben. Aber wenn man sie ansah, sah man nur ihre Augen. In ihnen lag ihre ganze Seele. Sie konnte niemandem etwas zuleide tun. Ich sah sie nie heftig oder böse. Immer war sie voll Ruhe, voll Verständnis und voll Mütterlichkeit. Wen sie einmal ins Herz geschlossen hatte, den hielt sie mit ihrer ganzen Treue und Innerlichkeit fest. Sie konnte kindlich fröhlich sein, wenn sie mit ihren Enkelkindern sprach oder wenn sie erzählte, und trotzdem war es kein leichtes Los, das ihr das Schicksal zugedacht hatte.
Die Pallanik-Ahnl oder besser die Schweighardt Lisi, wie sie mit ihrem Mädchennamen hieß, stammte aus Gánt, einem kleinen Dorf, das etwa drei Wegstunden von Gestitz entfernt ist. Ihre Mutter war eine kleine, schwächliche Frau, aber trotzdem sah sie auf Zucht und Ordnung, daß sich alle wunderten, wie sie mit der ungeheuren Arbeit, die auf ihr lastete, zurechtkam. Sie hatte ihrem Mann zehn Kinder geboren. Acht davon blieben am Leben, und sie erzog sie zu tüchtigen, brauchbaren Menschen. Von allen Kindern war ihr Lisi am ähnlichsten geraten.
Wie in allen diesen kinderreichen Familien mußte sich jedes Kind eine Arbeit suchen, sobald es nur anging. Die Lisi kam früh fort aus dem Elternhaus und verdingte sich bei einem Bauern als Dienstmädchen. Es waren nur wenige Jahre, die ihr daheim gegönnt waren, und doch zehrte die Ahnl ihr ganzes Leben von der Erinnerung an ihre früheste Kindheit. Mit zwanzig Jahren heiratete sie einen Bauern aus Köhányás, einem kleinen Nachbardorf, das nur aus ein paar Hausern bestand. Neun Jahre war sie mit diesem Mann verheiratet. Aber nur drei Jahre war er arbeitsfähig, die übrige Zeit siechte er an einem schweren Lungenleiden dahin. Damals lernte die Ahnl die bitterste Not kennen. Sie gebar dem kranken Mann vier Kinder, die schon vom Tod gezeichnet waren, als sie ihnen das Leben schenkte. Als der Mann starb, kehrte sie mit ihren vier Kindern in ihr Elternhaus zurück, wo der Vater mit drei Brüdern allein wirtschaftete.
Die Mutter war gestorben. Die Geschwister waren, wie so viele junge, unternehmungslustige Sprachinseldeutsche aus dieser Gegend, nach Amerika ausgewandert, um sich ein leichteres Brot zu verdienen und ihr Glück zu versuchen. Die Heimat hatte nicht Platz für alle, und Amerika schien damals das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein.
Das Schicksal prüfte die junge Witwe noch harter. In kurzer Zeit starben ihre Kinder. Nur die Jüngste, ein Mädchen, schien ihr erhalten zu bleiben. Aber auch sie starb mit sechzehn Jahren. Das war zuviel für die junge Mutter, und damals war sie nahe daran zu verzweifeln. Von ihrer Ehe war ihr nichts geblieben als die Erinnerung an sehr viel Leid.
Sie arbeitete unermüdlich, und doch wußte sie, daß sie auf die Dauer nicht werde daheim bleiben können. Freunde rieten ihr: „Heirate doch noch einmal! Du plagst dich umsonst. Wenn deine Geschwister aus Amerika heimkommen, stehst du ihnen nur im Weg." So heiratete sie wirklich noch einmal, einen angesehenen Bauern, der selber Witwer war und für seine fünf verwaisten Kinder eine Mutter suchte. Es war der Pallanik-Ähnl, der sie in sein schmuckes Haus in Gestitz heimholte.
Diesmal hatte sie es gut getroffen. Denn der Ahnl war ein herzensguter, fröhlicher Mann. Frau Lisi durfte an den fremden Kindern all ihre reiche Mütterlichkeit entfalten, und als sie selber noch zwei Kinder geboren hatte, war das Glück auch ein wenig zu ihr gekommen. Sie machte nie einen Unterschied zwischen ihren eigenen Kindern und denen ihres Mannes. Ihr höchster Stolz waren „ihre" 32 Enkelkinder.
Wer die Ahnl verstehen will, muß sie einmal gesehen haben, wenn sie mit einem Enkelkind sprach. Ihre harten, rauhen Arbeitshände wurden ganz weich und sanft, wenn sie der kleinen Mirdi über den Scheitel strich. Ich habe noch nie Hände gesehen, die so edel, so gütig, so mütterlich waren. Wenn ich an die Ahnl denke, fallen mir immer ihre sanften Liebkosungen ein, und es ist kein Zufall, daß ihre Kinder und Enkelkinder sich bei ihr zutiefst geborgen fühlten.
Als ich die Märchen von ihr aufschrieb, war die Ahnl 65 Jahre alt, und sie hatte sich zur Ruhe setzen können nach ihrem Leben voll Arbeit und Leid. Aber sie wollte sich keine Ruhe gönnen und schaffte unermüdlich, obwohl es ihr im Winter immer schwerer wurde. Sie fürchtete sich vor der kalten Jahreszeit und konnte den Sommer kaum erwarten, bis sie wieder draußen im Freien sein konnte.
In dem Winter, der meinem Besuch folgte, wurde sie kränklich und zerbrechlich, und die Kälte packte sie so hart an, daß ihre Lieben um ihr Leben zitterten. Der Ahnl berichtete mir in einem Brief darüber, und er schrieb auch, daß sie „mit Gottes Hilfe wiederum besser geworden ist". Ganz gesund war sie noch immer nicht, aber sie konnte wenigstens auf sein und etwas arbeiten.
Ihre zwei eigenen Kinder glichen ihr in ihrer Art. Frau Lisi, jene junge Bauerin, die mich damals so gastfreundlich aufnahm, war von einer erfrischenden Herzlichkeit und Natürlichkeit. Sie hatte vor einigen Jahren den klugen und tüchtigen Georg Beck geheiratet. Die beiden jungen Leute waren damals arm. Sie mußten sich im Sommer durch Taglöhnerarbeit etwas dazuverdienen. Trotzdem waren sie unendlich reich. Ich hörte nur Lachen und Singen in dem neuen, blitzsauberen Haus, das sie sich selber gebaut hatten. Ich war gerne bei ihnen zu Gast, und am liebsten erinnere ich mich daran, wenn Frau Lisi mit ihren beiden Kindern spielte. Es sei hier schon vermerkt, daß diese liebenswürdige Frau in der alten Heimat bleiben konnte, weil die meisten Gestitzer nicht ausgesiedelt wurden. — Das Dorf war zu klein und unbedeutend für die Wirtschaft. - Von Lisis weiterem Schicksal soll später noch die Rede sein, auch sie blieb nicht verschont von schweren Schicksalsschlägen.
In Gant habe ich damals auch die jüngere Schwester Kathi aufgesucht. Sie hatte einen braven Bauernsohn geheiratet und lebte nun wieder in dem Dorf, aus dem ihre Mutter stammte. Es war ein Spiel des Zufalls, daß sie nach ihrem Mann wieder Schweighardt so wie es der Mädchenname ihrer Mutter gewesen war. Insofern war es nicht allzu verwunderlich, weil es in diesen Dörfern nur ganz wenige Familiennamen gab, da fast alle irgendwie miteinander versippt waren. In Gestitz waren die Namen Schweighardt, Berghold und Hartdegen vorherrschend. Frau Kathi war stiller und ruhiger als ihre lebhaftere ältere Schwester, aber ebenso natürlich und fröhlich.
1959 konnte ich mit ihr ein Wiedersehen feiern, allerdings nicht in Ungarn, sondern an der Zonengrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in Langenhain im Kreis Eschwege. Trotz aller Not, die sie als Ausgesiedelte in einem Flüchtlingslager und später auf Heimatsuche erlebt hatte, hatte sie sich ihren Frohsinn bewahrt und mit ihren Kindern und ihrem Mann ein neues Leben aufgebaut. Wie die meisten Volksdeutschen aus den Sprachinseln hatte es die Familie inzwischen auch zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht und sich in der fremden Umwelt eingelebt.
Solange ich in Gestitz war, besuchte ich die Ahnl jeden Tag, und sie erzählte mir bereitwillig, wann immer ich sie aufsuchte. Sie wartete schon immer, bis ich kam, und schickte die Mirdi, das fünfjährige Dirnlein ihres Sohnes, wohl ein dutzendmal in den Hof hinaus, ob ich schon kirne. Die Mirdi tat aus freien Stücken das Ihre hinzu, denn sie wüste, daß eine Tüte mit Zuckerwerk in der Tasche hatte, die für meine kleinen Freunde bestimmt war, und daß dann auch etwas für sie abfiel.
Die Mirdi war immer die erste, die mich begrüßte. Kaum hatte sie „Guten Tag!" gesagt, stürmte sie in die Stube: „Ahnl, Ahnl, die Neni (Frau) ist da!" Die Ahnl hatte es sich immer so eingerichtet, daß sie sich eine leichte Arbeit in der Stube zurechtlegte, die sie weiter nicht störte. Einmal klaubte sie Fisolen aus, dann wieder hatte sie einen schadhaften Rock auszubessern, oder sie strickte Strümpfe für eines ihrer vielen Enkelkinder. Irgendeine Arbeit hatte sie immer bereit, denn „man durfte doch nicht an einem hellichten Werktag die Hände in den Schoß legen". - „Wenn ich einmal nimmer arbeiten kann, dann mag ich auch nimmer leben", sagte sie einmal.
Ja, so war sie, die Ahnl, und ihre Töchter waren ebenso: Es waren rechtschaffene, tüchtige Bäuerinnen, deren Leben Arbeit und Plage war, die einfach und schlicht ihre Pflicht taten und die doch dabei von innen heraus fröhlich waren, weil ihnen die Natur ein heiteres Gemüt beschert hatte. Ich erinnere mich an viele Frauen aus diesen Sprachinseldörfern im Schildgebirge, die der Pallanik-Ahnl nicht unähnlich waren in ihrem Gehaben und in ihrer Veranlagung. Das war wohl mehr als ein Zufall. Sie waren noch tief verwurzelt in der Dorfgemeinschaft, aus der sie stammten, und die Gemeinschaft formte sie über die Einzelunterschiede hinweg zu einer Einheit.
In Gánt, dem Geburtsort der Pallanik-Ahnl, und auch in Gestitz gab es noch ein wirklich starkes, selbstverständliches Zusammenhalten. Gánt und Gestitz waren einander ganz ähnlich in ihrem Gefüge. Sie liegen beide im südlichen Teil des Schildgebirges, jenes Hügellandes, das sich nördlich von Komorn bis zum Ofner Bergland hin erstreckt und das im frühen 18. Jahrhundert nach den Türkenkriegen von Deutschen neu besiedelt wurde. Das Schildgebirge ist mit seinen sanften Höhen, seinen weiten Waldern und seinen Weingarten eine ausgesprochen anmutige Landschaft.
Gánt und Gestitz gehörten zu jenen bescheidenen, kleinen Dörfern, die mitten im Wald versteckt waren. Ja, in Gestitz schmiegte sich die eine Straßenreihe ganz eng an einen Hügel an, als wollten die Hauser hier Schutz suchen. Beide Dörfer lagen abseits von den großen Verkehrsstraßen.
Nach Gestitz führte nicht einmal eine Landstraße, sondern nur ein Weg, auf dem kaum ein Wagen fahren konnte. Ein schmaler Waldweg verband Gestitz mit dem Nachbardorf Kozma.
Ich sehe jene deutschen Dörfer im Schildgebirge noch so vor mir, wie sie vor 50 Jahren waren. Sie unterschieden sich voneinander in kleinen Besonderheiten der Mundart, in der Kleidung, im Lied- und Erzählgut, aber die Unterschiede verschwammen durch Mischehen. Sie boten daher ein einheitliches Bild. Der Straße entlang standen die schmucken weißen Hauser. Sie wurden jedes Jahr vor dem Kirchtag frisch getüncht, darum waren sie so rein und sauber. In vielen Häusern stand noch alter Hausrat: bunt bemalte Schränke und Truhen, Himmelbetten mit weiten roten Vorhängen, schön geflochtene Stühle. In jedem Haus waren die Betten so hoch aufgetürmt, daß man nicht mehr darübersah. In der Küche hingen Porzellanteller an bunten Bändchen an der Wand. Die Küche trennte die vordere Stube, die nur für die Gäste bestimmt war und sonst nicht benützt wurde, von der hinteren Stube, dem eigentlichen Wohnraum.
Jeden Morgen zog der Schweinehirt durch das Dorf und blies in sein Hom, daß ihm die Bauerinnen seine Schützlinge zutrieben. Er hütete sie außerhalb des Dorfes auf der großen Gemeindeweide. In der Nacht sorgte der Nachtwächter für das Wohl der Gemeinschaft. Aber die Bauern hielten von selber Ruhe und Ordnung, so daß es nichts ausmachte, daß sie in Kozma einen Mann zum Nachtwächter bestellt hatten, der zu nichts anderem zu brauchen war, weil er halb blind und taub war.
Die hohen Ziehbrunnen und die schnatternden Gänseherden gehörten unzertrennlich zum Dorfbild, und noch etwas: beglückend viele rotbackige Kinder, die auf der breiten Dorfstraße spielten. In Gánt gab es kaum eine Familie mit weniger als fünf oder sechs Kindern, auch acht oder neun Kinder waren keine Seltenheit. Es galt als Schande, keine Kinder zu haben. Das war ein prachtvoller, gesunder Menschenschlag. Ich bedauerte es oft, daß ich nicht malen konnte. Diese Menschen hatte reine Züge und trugen noch die alten, kleidsamen, farbenfrohen Trachten. Schon die Kleinen, die kaum laufen konnten, hatten hübsche Haubchen und bunte, bauschige Röcke, als stammten sie von einem Brueghelbild. Die größeren Dirnlein hatten die blonden Haare in straffe Zöpfchen geflochten und um den Kopf gelegt. Wenn es nicht ausreichte, mußte ein eingeflochtenes Samtband nachhelfen.
Ich sah oft zu, wenn sich die Mädchen für den Kirchgang schön machten. Die kleine Franziska war ganz unglücklich, wenn ihr die Mutter nur zwei Unterröcke anzog, denn erst mit vier oder fünf gab sie sich zufrieden. Ihre großen Schwestern hatten ja auch fünf Unterröcke unter dem schweren Sonntagsrock an. So eilig es die Kathi immer hatte, so viel Zeit fand sie immer, daß sie ihre vielen Kittel wusch und bügelte. Das war gar nicht so einfach, denn es verlangte viel Geschicklichkeit und Ausdauer, bis sie den weiten Rock in schöne, kleine Falten gelegt hatte.
Ich will hier die Trachten nicht genauer beschreiben. Das ist nicht der
Zweck dieses Buches. Aber das eine merkte ich an jedem Sonntag und erst recht an jedem besonderen Feiertag: Es war nicht Eitelkeit oder leere Gefallsucht, daß sich die Mädchen mit so viel Sorgfalt kleideten, es war Ausdruck einer natürlichen Lebensfreude, und es steckte wohl auch ein Stückchen wirkliche Festkultur dahinter.
So bunt und fröhlich die Madchentracht war, so dunkel und ernst war die Kleidung der Burschen und Manner, und auch die verheirateten Frauen sahen ehrwürdig und feierlich in ihrem Sonntagsstaat aus. Da saßen die Männer und Frauen in ihren dunklen Feiertagsgewändern in den Banken in der Kirche. Ganz vorne beim Altar war der Platz für die Schulkinder, und hinter ihnen standen die Mädchen. Es war selten eine darunter, die sich „herrisch" kleidete, wie sie es in der Stadt gesehen hatte. Wenn sie es tat, wurde sie ausgelacht, und darum ließ sie es daheim lieber bleiben.
In Gestitz gingen die meisten Mädchen ein paar Jahre nach Budapest, um sich als Dienstmädchen Geld zu verdienen. Diese Jahre in der Großstadt gingen an ihnen spurlos vorbei. Nur die wenigsten blieben in Budapest. Die meisten heirateten einen Burschen aus dem Heimatdorf und wurden wieder Bauerinnen. Wenn sie sich auch in Budapest an die Stadt angeglichen hatten, in Gestitz fügten sie sich widerstandslos in die Dorfgemeinschaft ein. Sie ließen die lebendige Verbindung zu ihrer Heimat nie abreißen. Zum Fasching, zu Hochzeiten und zu großen Festen erbaten sie sich Urlaub, und viele unterbrachen ihre Dienstzeit im Sommer und halfen daheim bei der Erntearbeit mit.
Sie tanzten bei diesen Festen, die sie in der Heimat miterleben durften, nicht Foxtrott und Onestep wie die Saarer Bauern, die es in Kleidung und Tanz den Stadtleuten gleichtun wollten. So stark war das alte Erbe in Gestitz, daß es nicht einmal durch den unmittelbaren Aufenthalt in der Großstadt zerstört wurde.
In Gánt war schon vor 50 Jahren der fremde Einfluß gewachsen. 1927 war in der Nahe eine Aluminiumgrube eröffnet worden, und viele Bauern und Bauernsöhne arbeiteten in der Grube, um sich im Nebenerwerb etwas dazuzuverdienen. In der Grube kamen sie mit ungarischen Arbeitern zusammen. Am Rand des Dorfes wuchs schon damals eine Siedlung dieser ungarischen Bergarbeiter. Die gesunde bauerliche Natur der Ganter behielt lange die Oberhand. Wenn sie auch in der Grube arbeiteten, in der freien Zeit bestellten sie ihre Felder. Sie trugen noch ihre bauerlichen Trachten und hielten an dem ererbten überlieferungsgut fest, das sich in diesem Dorf ja besonders reich und schön entfaltet hatte. Schon damals fragte ich mich, wie lange das so bleiben würde, was starker sein werde, die stadtischen Einflüsse oder die alten Bande, die sie in der Dorfgemeinschaft verankerten.
Zu Ende des Zweiten Weltkrieges verlief die Frontlinie für drei Monate auf der Anhöhe zwischen Gestitz und Kozma, ehe die Russen im März 1945 ihren Vormarsch fortsetzten. Gestitz blieb von den Kampfhandlungen nicht völlig verschont, aber die Zerstörungen hielten sich doch in Grenzen. Vor allem war es ein daß die Gestitzer nicht ausgesiedelt wurden, sondern daheim bleiben durften. Sie bauten die zerstörten Häuser auf, errichteten neue und modernisierten die alten. In den letzten Jahrzehnten ist aus dem armen, kleinen Dorf eine stattliche Ansiedlung mit mehr als 500 Einwohnern geworden. Ein regelmäßiger Autobusverkehr verbindet Gestitz mehrmals am Tag mit Tatabánya und Oroszlány, wo die Dorfbewohner als Bergleute in den Kohlengruben, als Autobus- und Lastwagenfahrer, als Arbeiter und Angestellte in öffentlichen Betrieben und Gaststätten Arbeitsplätze gefunden haben, die ihnen ein gesichertes Einkommen ermöglichen.
Nur in Kozma hat sich das alte Dorfbild erhalten. Es ist zu einem Museumsdorf geworden, das von Fremden gerne besucht wird. Es wohnen aber keine Bauern mehr in Kozma, sondern Städter haben hier ihre Ferienhau-ser.
Obwohl Gestitz, was die Abstammung seiner Bewohner betrifft, ein deutsches Dorf geblieben ist, sprechen nur noch die älteren Leute untereinander deutsch. Die Jüngeren verstehen wohl Deutsch, antworten aber auf Ungarisch, wie sie das von der ungarischen Umgebung, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglicht hat, gewohnt sind. So sind auch die Alten gezwungen, sich der ungarischen Sprache zu bedienen, und ihre Muttersprache tritt immer mehr in den Hintergrund.
Die Kinder sprechen im Kindergarten, in der Schule, aber auch mit ihren Eltern nur ungarisch, ja sie verstehen ihre Großeltern nicht einmal mehr, wenn sie in der Mundart mit ihnen reden, und das, obwohl sie neben Russisch Deutsch als „Fremdsprache" in der Schule lernen.
Die Urenkel der Pallanik-Ahnl ziehen die ungarische Sprache der deutschen vor, und ihre Kinder lieben zwar noch immer Märchen, aber aus der Geschichte vom Urberl sind die gesungenen Verse das einzige, was sie in deutscher Sprache wiedergeben können. Alles übrige muß ihnen ihre Großmutter ungarisch erzählen, wenn sie es verstehen sollen.
Früher waren die Kinder noch unbewußt und doch tief und fest in die Überlieferungswelt der Gemeinschaft hineingewachsen. Eine reiche, reine Welt tat sich in den Spielen und Verslein der Kinder auf. Zugleich hatten sich in den Kinderspielen alte Überlieferungswerte erhalten. Die beliebtesten Kinderspiele waren „die Winterhex", das „Farbgspiel", in dem ein Engel mit einem goldigen Rosenstock und ein Teufel mit 99 „Krotnhaxen" die Hauptrolle spielten, das „Leimatstehlen", das hier einen ganz besonders bezeichnenden Verlauf nahm, das „Lamplspiel" usw.
Von der Mutter und den alteren Geschwistern lernten die Kleinen ihre Spiele. Die größeren Kinder nahmen die ganz Kleinen, die kaum laufen konnten, an der Hand und spielten mit ihnen. Sie verbanden dabei das Nützliche mit dem Angenehmen. Denn es machte ihnen selber Spaß, und sie entledigten sich dabei ihrer Aufgabe, auf das kleine Brüderchen oder Schwesterchen achtzugeben. Schon Fünfjährige erwiesen sich als umsichtige Kindermädchen. Die Lisi und Mirdi sangen unermüdlich ihr:

Die Waberl-Basl, meire erste „Märchenfrau"aus Untergalla

 

„Ringa, ringa, reia.

San ma unser dreia.

Sitz ma unterm Hollerbam,

eß ma Brot und Müllirahm.

Kummt die Frau in Gärten,

tut die Pischerl (Küken) warten,

kummt der alte Zwiefelmänn,

jaukt die Pischerl áll davon.

Husch, husch, husch."

Sie hatten die kleine Nantschel an der Hand, die noch nicht allzu sicher auf ihren zwei dicken Beinchen stand. Die sagte wohl auch eifrig ihr: „Schu, schu, schu!" aber wenn sich die anderen Kinder dabei niederhockten, zog sie es vor, stehen zu bleiben. Denn einmal hatte sie es versucht und war dabei jämmerlich hingepurzelt. Seither wollte sie die Sache lieber von oben betrachten.
Welcher Reichtum an Gemüt und Seele offenbarte sich allein in den überlieferten Tier- und Pflanzennamen! In der Schule lernten die Kinder die ungarischen botanischen Namen, aber sie nannten die Blumen und Tiere, wie sie es von ihrer Mutter und Großmutter gehört hatten: Herrgottsvögerl (Marienkäfer), Sunnavögerl (Schmetterling), Schneeveigerl (Schneeglöckchen), Himmelsschlüsserl, Brennende Liab, Judenpfeiferl (Kuhschellen), Richterbuschen (Wegwarte), Marienrosen (Dahlien) usw.
Geschwister und Spielkameraden führten das Kind mitten hinein in die Gemeinschaft, und mehr noch als die Eltern machten es die Großeltern mit dem reichen Schatz mündlicher Überlieferung bekannt. Ihnen war ja in der dörflichen Lebensordnung die Pflege des Kleinkindes anvertraut. Mutter und Vater mußten für Haus und Hof Sorge tragen. Im Sommer standen sie so tief drinnen in der Arbeit, daß sie kaum Zeit für ihre Kinder hatten.
Aber die Großeltern, die zu einer schweren Arbeit schon zu alt und müde geworden waren, sorgten für die Kleinen. Sie erzählten ihnen von ihrer eigenen Jugend, von den Sitten und Gebrauchen, die damals galten. Sie sangen ihnen Lieder vor und erzählten ihnen alte Märchen und Sagen, denn dadurch fesselten sie ihre Aufmerksamkeit und waren sicher, daß sie bei ihnen blieben. Großmütter und Enkelkinder hingen in rührender Liebe aneinander. Ich muß da immer wieder an die Pallanik-Ahnl und ihre 32 Enkelkinder denken, die zueinander ein besonders inniges Verhältnis hatten. Vielleicht war auch das der Grund, daß sie so meisterhaft erzählen konnte.
Aus der Spielgemeinschaft der Kinder worden die geschlossenen Burschen- und Mädelkameradschaften. Das waren keine äußerlichen Einheiten, die die Gleichaltrigen durch ein loses Band zusammenhielten. Die Kameraden gehörten wirklich zusammen. Die Mädchen und Burschen trafen einander am Sonntag, auch an den Sommerabenden, wenn die Arbeit getan war, und zogen singend durch das Dorf. Voran schlenderten die Mädchen, eingehängt in einer langen Reihe, und hintennach die Burschen, die sich auch sonst zu allerhand Spiel und Spaß trafen. Wenn ich ein Lied aufschreiben wollte und ein Mädchen danach ausfragte, hieß es immer: „Allein geht es nicht recht. Ja, wenn meine Kameradinnen da waren, dann täten wir Euch schon was vorsingen."
Besonders die Burschenschaft war eine feste Gliederung, in die sich der einzelne einkaufen mußte. Erst dann war er „Bursch" geworden und hatte das Recht, im Wirtshaus zu tanzen. Mit der Heirat schieden die Burschen und Mädchen aus ihrer Kameradschaft. Sie wurden nun in die Gemeinschaft der Männer und Weiber aufgenommen.
Alles Leben war in diesen Dörfern von der Gemeinschaft getragen. Das war das Wesentliche und Entscheidende, und das äußerte sich schon in der Tracht. Das Festhalten an der Tracht heißt ja nichts anderes als: „Ich bekenne mich zu der Gemeinschaft, aus der ich gewachsen bin."
Die große Dorfgemeinschaft war in Nachbarschaften und Freundschaften geteilt. Freunde waren hier nach dem Begriff des Wortes die Verwandten. Es gab wenige Außenseiter, die sich selbst genug waren. In der Regel hüten die Nachbarschaften eng zusammen. Beim Federnschleißen halfen die Nachbarinnen mit. Darum war die Arbeit bei jedem einzelnen schneller getan. Wenn alle Federn geschlissen waren, bewirtete die Hausfrau ihre fleißigen Helferinnen mit Kuchen und Kaffee. Am nächsten Tag ging es weiter zur Nachbarin, und nun halfen dort alle zusammen, bis sie auch dort mit der Arbeit fertig waren.
Dadurch aber, daß bei diesen Gemeinschaftsarbeiten, also beim Federnschleißen, beim Kukuruzschalen, beim Rübenschneiden usw. viele Leute beisammen waren, war auch der Boden bereitet für das Singen und Erzählen.
Wohl nirgends zeigte sich die Verankerung des einzelnen in der Gemeinschaft so schön wie im Jahresbrauchtum und in den großen Festen des Lebenskreislaufes, bei Taufe, Hochzeit und Begräbnis. Ich will hier, statt einen kurzen überblick über das gesamte Brauchtum zu geben, der doch nur im Äußerlichen und Schematischen haften bliebe, erzählen, wie es auf einer Hochzeit in Gestitz zuging, auf der ich selber zu Gast war.
Es war einer jener Vorfrühlingstage, an denen die Sonne schon warm schien. Im Wald draußen lag noch der Schnee, aber an den aperen Hängen blühten schon die Schneeglöckchen. Der Himmel war tiefblau. Vor dem Haus der Braut standen die Kranzlmadeln beisammen und lachten und plauderten durcheinander. Hell und freundlich umrahmte ein weißgrünes Kränzchen die fröhlichen Gesichter der Mädchen. Ihre Haare waren heute ganz besonders sorgfältig gekämmt. Der Lisi hatte ihre Mutter 20 dünne Zöpfchen geflochten und zu einer Krone aufgesteckt.
Alle Mädchen hatten lange hellblaue und rosa Bänder an ihren Kränzen und ein grünes Rosmarinzweiglein in der Hand. Alle trugen weiße Schürzen, weiße Strümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Die Röcke und Joppen schimmerten in den verschiedensten dunklen Farbtönen, in sattem Blau,
Grün, Rot und Violett, und die Röcke bauschten sich weit, denn jede hatte vier, fünf, auch sechs gestärkte Unterkittel darunter an.
Neugierig trat die Braut in die Tür, um zu erkunden, ob die Junggesellen schon kämen. Sie hatte die gleiche Tracht wie die Kranzlmadeln, von einem gleichen Kranz flatterten die blauen und rosa Bänder, nur ihr Gewand war aus besonders schwerem, kostbarem Stoff.
Da kamen auch schon die Burschen in ihren schwarzen Feiertagsgewändern. Sie hatten Rosmarinsträußchen mit blauen und rosa Bändchen angesteckt, und auch ihre Hüte waren mit rosa und blauen Bändern geschmückt.
Als alle beisammen waren, zogen die Mädchen und Burschen hinunter an das andere Ende des Dorfes zum Haus des Bräutigams und holten ihren Kameraden mit klingendem Spiel ab. Vor den Häusern standen die Alten und winkten dem Zug freundlich zu, und die Kinder liefen hintennach. Die Burschen gingen voran. Zwei Kranzlmadeln hatten den Bräutigam in ihre Mitte genommen und beschlossen den Zug der Burschen. Flinter ihnen marschierte die „Banda", zwölf Spielleute, und blies einen fröhlichen Marsch. Die Mädchen beschlossen den Zug.
Vor dem Haus der Braut blieben die Burschen und Mädeln stehen. Der Johann, der heute der erste Junggesell und Brautführer sein durfte, trat in die Stube, wo die Braut und ihre engsten Verwandten versammelt waren. Ernst und selbstbewußt sagte er den langen Ausbittspruch, und während er die alten Worte sprach, die seit vielen Geschlechterfolgen zu jeder Braut in diesem Dorf gesagt worden waren, lag eine tiefe Würde auf den Gesichtern der Alten. Alle fühlten die stille Größe dieses Augenblicks. Weinend nahm die Braut von ihren Eltern Abschied. Die beiden ersten Junggesellen nahmen sie in die Mitte und führten sie aus ihrem Elternhaus fort.
Wieder war der Hochzeitszug streng geordnet. Voraus spielten die Musikanten. Unmittelbar hinter ihnen führten die Junggesellen die Braut. An sie schlossen sich die Paare der Junggesellen und Kranzlmadeln. Die Burschen lachten. Jeder trug eine Weinflasche in der Hand und tat daraus auf dem Weg zur Kirche manch herzhaften Zug. Erst dahinter ging der Bräutigam, geleitet von zwei Kranzlmadeln, gefolgt von seinen Beistanden und den übrigen Männern. Ganz zum Schluß kamen die Weiber. An der Kirchentür stellten die Burschen die Weinflaschen nieder und worden ganz ernst. Es war eine große Hochzeit, denn die Eltern wollten es so.
Nach der kirchlichen „Kopulation" gehörte das junge Paar nicht mehr zu den Burschen und Mädchen. Auf dem Heimweg von der Kirche wurde der Bräutigam von den Männern geführt, und die Braut ging zwischen ihren Godln (Patinnen). Sie war in die Gemeinschaft der Weiber aufgenommen. Auf dem Heimweg machte der Brautvater den Abschluß- als wollte er aufpassen, daß ihm keiner der Hochzeitsgäste davonlief. Denn nun fing erst im Elternhaus der Braut die „Mahlzeit" an.
Da standen sie nun vor dem Haus im Hof beisammen und wünschten dem jungen Paar viel Glück für den Ehestand. Die Mädchen liefen schnell heim und zogen statt der feierlichen dunklen Gewänder helle bunte Röcke und Joppen an. Während drinnen in der guten Stube die Tische gerichtet wurden, spielten die Musikanten zum Tanz auf, und alle tanzten in der hellen Mittagssonne, daß die bunten Röcke der Mädchen flogen.
Als alles bereit war, wurden die Gäste zur Mahlzeit gebeten. Es war wirklich eine große Hochzeit. Über hundert Hochzeitsgäste waren geladen worden. Ganz eng standen die Bänke und Tische aneinander, daß dazwischen nicht einmal richtig Platz zum Durchgehen war. Die Braut saß, wie es sich gebührte, im Winkel, neben ihr der rechte Junggesell und ihr gegenüber der linke. An sie reihten sich die Mädchen und Burschen, Männer und Weiber. Die Musikanten durften auch nicht fehlen. In der Küche war noch ein langer Tisch, den hatte man für die Kinder gedeckt.
Der Bräutigam hatte eine blaue, schön gestickte Schürze umgebunden. Auf dem Kopf trug er noch immer den buntgeschmückten Hut. Den Rock hatte er ausgezogen, weil es ihm zu heiß geworden war, denn er hatte alle Hände voll zu tun: Er mußte für alle Hochzeitsgäste das Essen auftragen. Mir, war, als hätte diese schmausende Hochzeitsgesellschaft das Vorbild für das bekannte Brueghelbild abgegeben. Unermüdlich schleppte der Bräutigam immer neue Schüsseln herbei, die ihm die Köchinnen aus riesigen Töpfen mit einem großen Schöpflöffel immer wieder anfüllten.
Die Speisenfolge war streng geregelt. Wie auf jeder Hochzeit wurden die Hühnersuppe, das Krenfleisch, das Schweinefleisch mit Kraut, der Braten mit sauren Gurken und Berge von Bäckereien aufgetragen. Die Weingläser durften nie leer sein. Die Köchin, es war eine frische, derbe, resolute Frau, die zu allen Hochzeiten in Gestitz aufkochen mußte, hatte seit vier Tagen unermüdlich gekocht. 28 Hühner, 80 Kilo Schweinefleisch, 13 Kilo Rindfleisch, einen Meterzenten Mehl, 40 Kilo Zucker, 10 Kilo Butter, 500 Eier hatte sie dazu gebraucht. Sie hatte allein 28 Guglhupfe gebacken, nicht zu reden von den 122 großen Brotlaiben.
Da hatte der Bräutigam schon zu tun, bis er alle Speisen an den Mann gebracht hatte. Aber er lachte übers ganze Gesicht und schleppte geduldig immer neue Vorräte herbei. Zwischen den einzelnen Gangen mußten die Köchinnen, die Brautmutter und die Ahnl schnell die Teller waschen, in große Körbe stürzen und abtrocknen, damit das Essen ungestört weitergehen konnte.
So eine Hochzeit verlangt volle Vorratskammern. Aber es ist nicnt ganz so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht, denn die Hochzeitsgäste hatten alle ihr Scherflein beigesteuert zum gemeinsamen Festschmaus: Hühner, Eier, Mehl, Zucker, und auch die Teller und Schüsseln hatten die Freunde den Brauteltern für den „Ehrentag" geliehen. Der besondere Stolz der Köchin waren ihre feinen Bäckereien und Torten.
Als sich die Gäste zuletzt noch an dem Backwerk gütlich taten, durften auch der Bräutigam und die Köchinnen schnell etwas essen. Viel Zeit blieb ihnen nicht, denn schon wurden die Gesundheitssprüche auf das junge Paar ausgebracht. Der erste Junggeselle nahm einen Teller in die Hand, darauf stand ein Weinglas mit einem Rosmarinstengel darin. Er sagte seinen Spruch:

„Gute Gsundheit in Ehren!

Die Braut und den Bräutigam häb i gern. Vivat!"

Während die Musik einen Tusch spielte, legte er ein Geldstück auf den Teller und reichte ihn seinem Nachbarn. Jeder sagte seinen Spruch, wie es ihm gerade einfiel.
Ein Kranzlmadel verriet ihr Geheimnis:

 

„Gute Gsundheit in Ehren!

Mein Junggsell häb i gern.

 

Drum häb i ihn gern,daß er mei

Mann soll werdn. Vivat!"

 

Ein anderer sagte:

 

„Gute Gesundheit!

Die Gestitzer Madl, die essen

gern a

Bradl (Braten),

die trinken gern an Wein,

drum solln s'heut lustig sein.

Vivat!"

Jeder kam an die Reihe, jeder sagte seinen Spruch, und immer spielten die Musikanten ein Stücklein. Als alle durch waren, ging der erste Junggeselle Geschenke für die Braut einsammeln. Alle Kameraden und Freunde hatten etwas mitgebracht: ein seidenes Kopftuch, Krüge und Geschirr, ein feines Kinderhäubchen und -Jäckchen waren auch dabei. Ein ganzer Berg von Geschenken kam zusammen. Als die Brautleute dann in der Stube näher anschauten, was sie bekommen hatten, meinte der Bräutigam:
„Du, Resl, was meinst, das tun wir morgen wieder!"
Auf einmal stolperte die Köchin bei der Tür herein, daß sie fast den Türstock mitnahm: „Oje, oje, i háb mein Fuaß verbrennt!" Derb und bestimmt stieg sie auf eine Bank und sammelte mit ihrem größten Schöpflöffel Geldstücke und kleine Geschenke ein, daß sie auch zu ihrem Teil käme. Die Spielleute bliesen dazu einen Marsch.
Der erste Junggeselle trat vor die Gäste hin und sagte den alten Firi-federspruch (Herausforderspruch). Mit wohlgesetzten feierlichen Worten bat er die Gäste dreimal um Erlaubnis, ob es ihm gewährt sei, die Braut hervorzuholen. Als ihm die Hochzeitsgäste die Erlaubnis gaben, wendete er sich an die Braut selber:
„Geehrte Jungfrau Braut, hast gegessen und getrunken, hast deinen Leib abgespeist, so tritt hervor, zum ersten über die Bank, zum zweiten über den Tisch und über den Hut des Bräutigams, und zum dritten will ich dir reichen meine rechte Hand und will dich führen auf zwei oder drei christliche Ehrentanz."
Der Johann war noch nicht ganz zu Ende, da lachte die Braut: „I kann net. I hab kan Schuah." Weil der Junggeselle zuwenig achtgegeben hatte, hatten ihr die Burschen einen Schuh gestohlen. Es nützte ihm nichts. Er mußte Seine Unachtsamkeit büßen und den Schuh von dem Dieb um zwei Pengő loskaufen. Dann erst stieg die Braut auf die Bank, auf den Tisch und über den Hut des Bräutigams. Der Johann führte sie in die Küche, weil sonst nirgends Platz war, und tanzte mit ihr Seine Ehrentanze.
Rasch wurden nun die Tische und Bänke aus der Stube geräumt. Nur der Tisch für die Musikanten blieb stehen. Die Jungen konnten es gar nicht mehr erwarten, bis auch für sie der Tanz begann. Endlich war es soweit. Es wurde getanzt und gesungen bis Mitternacht.
Um 12 Uhr stellten sich alle Hochzeitsgäste in der Stube im Kreis auf. Die Braut mußte mit allen einen Brauttanz tanzen. Vom ältesten Männlein und Weiblein angefangen bis zum jüngsten Kind kam jeder dran. Die Reihen-folge war nach dem Grad der Verwandtschaft und dem Ansehen des Gastes streng geregelt. Wer mit einem Tänzlein nicht genug hatte, sagte einen Spruch:

„No a Stückl, daß der Ehstand guat grätet" oder

„No a Stückl, daß ma ums Jähr um die Zeit a Kindstauf häbn".

Zuletzt tanzte die Braut mit dem Bräutigam. Alle fielen über sie her und schlugen sie mit zusammengedrehten Tüchern und jagten sie aus der Stube hinaus. Nach einer Weile kam die Braut wieder.
Aber nun trug sie nicht mehr ihr grünes Kränzlein, sondern ihre Godln hatten ihr den Schopf, die Frauenhaube, umgebunden. Nun galt sie in der Gemeinschaft endgültig als junges Weib. Sie war „unter die Haube gekommen". Soweit war ich bei jener „Mahlzeit" mit dabei. Es wurde dann noch weitergetanzt und gesungen bis in den Morgen.
Ich habe noch mehrere Hochzeiten in deutschen Dörfern in Ungarn miterlebt. Nie aber habe ich es so sehr gespürt, was eine echte Dorfgemeinschaft für den einzelnen bedeutete wie in Bakonykuti, das ich aufgesucht hatte, weil ich wußte, daß am nächsten Tag dort eine Hochzeit gefeiert werden sollte.
Es war ein denkwürdiger Tag. Am Vormittag hatten Kinder mit Zündhölzern gespielt und eine Strohtriste in Brand gesteckt. Ein scharfer Wind trieb die Funken weiter, und in wenigen Minuten standen vier benachbarte Häuser in hellen Flammen. Wenn sich der Wind drehte, mußte sich das Feuer von Strohdach zu Strohdach weiterfressen, und die ganze Straßenzeile war unrettbar verloren. Das Dorf hatte nur einen einzigen Brunnen, und der war eben an jenem Ende des Dorfes, wo das Feuer wütete. Der schwelende Qualm und der Funkenflug machten es unmöglich, überhaupt bis zo dem Brunnen vorzudringen. Die Glocke schlug an und rief die Leute zusammen. Die Beherztesten drangen in die brennenden Häuser, um zu retten, was zu retten war. Wer nur Hände hatte, schleppte Eimer mit abgestandenem Regenwasser aus den Zisternen herbei und reichte sie in einer Kette von
Helfern weiter, damit man wenigstens die Nachbardächer abspritzen und vor den fliegenden Funken schützen konnte.
Es war ein glücklicher Zufall, daß der Wind mit unverminderter Kraft aus dem Dorf hinausblies. Nur dadurch wurde das Dorf vor dem Untergang gerettet. Wenige Stunden später fielen die lodernden Flammen in sich zusammen. Von den abgebrannten Häusern blieb ein verkohlter, schwelender Trümmerhaufen übrig. Allmählich löste sich das lähmende Entsetzen. Einige Burschen blieben als Feuerwache zurück, die anderen gingen wieder an ihre Arbeit. Mit selbstverständlicher Hilfsbereitschaft wurde für die Unglücklichen gesorgt, die durch den Brand Haus und Hof verloren hatten. Sie und ihr Hausrat, soweit man etwas hatte retten können, wurden im Dorf selber untergebracht. Das war am Vormittag.
Am selben Nachmittag wurde die Hochzeit trotz allem festlich begangen. Dieselben Menschen, die gerade noch um ihr Hab und Gut gebangt hatten, die dann tatkräftig mitgeholfen hatten, um für die Ärmsten zu sorgen, die das Unglück unmittelbar betroffen hatte, waren gemeinsam mit den Geschädigten beisammen, um mit dem Brautpaar den Ehrentag würdig zu begehen. Wer Seine Kleider verloren hatte, wurde von Freunden ausgestattet, daß er mitfeiern konnte, und so wurde es trotz allem eine sehr fröhliche Hochzeit. Wenn ich nicht selber am Vormittag mit dabei gewesen wäre und beim Löschen geholfen hätte, hätte ich es nicht glauben können, was für ein schweres Unglück diese fröhlichen Hochzeitsgäste heimgesucht hatte. Man konnte nicht mehr ändern, was geschehen war, darum fügte man sich in sein Schicksal. Der einzelne war nicht verlassen, sondern war geborgen in der Gemeinschaft, die in Freud und Leid zusammenhielt.
Einmal war ich auch im Fasching im Schildgebirge. Da wurde drei Tage lang getanzt und gesungen. Auch die Ärmsten, die sich das ganze Jahr nur trockene Kartoffeln leisten konnten, hatten gebacken und gebraten und taten es sich gütlich beim Essen und Trinken. Im Wirtshaus tanzten die größeren Mädchen und die Burschen, die sich schon in die Burschenschaft eingekauft hatten.
Im Nachbarhaus war eine große Stube ausgeräumt worden, und ein eigener Spielmann spielte auf seiner Ziehharmonika für die Kinder auf. Die Buben und Mädel waren genauso flink und gelenkig wie die Großen. Sie tanzten federnd und leicht mit unerhörter Geschicklichkeit ihren „Hops". Nur die ganz Kleinen drehten sich, wie sie es eben konnten. So eifrig waren alle beim Tanz, daß ihre roten Backen glühten.
Den Wänden entlang saßen die Mütter auf den Banken und hielten die Kleinsten, die noch nicht selber laufen konnten, auf ihrem Schoß. Sie sahen voll Stolz ihren Kindern zu und schoben die Vier- und Fünfjährigen auf den Tanzplatz: ,Mirdi, te nur mit! Wirst es schon lernen." Stundenlang konnten sie zusehen, auch wenn die Säuglinge auf ihrem Arm schon eingeschlafen waren.
Am Faschingsdienstag schien die Sonne so warm und schön, daß der Kinderspielmann im Hof aufspielte. Es war ein buntes, herzerfrischendes
Bild, die Kinder in ihren leuchtend roten, blauen und grünen Röcklein, wie sie mit heißen Wangen und strahlenden Augen durcheinanderwirbelten.
An einem Pfmgstsonntag erlebte ich in Gánt das Maibaumumreißen. Vor dem Schulhaus, vor dem Wirtshaus und vor dem Gemeindehaus hatten die Burschen am 1. Mai riesige Maibaume aufgepflanzt. Am Pfmgstsonntag zogen sie mit klingendem Spiel von einem zum andern und ließen ihn donnernd zur Erde krachen. Hinter dem Wirtshaus war eine Laubhütte gebaut, und dort begann als Höhepunkt des Festes ein Tanz, an dem das ganze Dorf teilnahm. Junge Frauen mit Kindern am Arm sahen dem Tanz zu. Wenn sie ein Tanzer holte, gaben sie die Kleinen der Nachbarin und drehten sich lustig mit. Lachend beruhigte die Nachbarin das weidende Kindchen: „Sei stad, Mirl, die Muida muiß tanzen!" In den Tanzpausen standen die Mädchen im Kreis und sangen ein Lied nach dem andern, bis die Musik einfiel und ein neuer Tanz begann.
Das also war die Umwelt, aus der die Ahnl stammte: eine Welt, in der die Menschen schwer arbeiten mußten, um ein Auslangen zu finden, in der sie es aber auch noch nicht verlernt hatten, Feste zu feiern, und in der über jedem einzelnen formend und bestimmend die Dorfgemeinschaft stand.
Der Alltag der Ahnl unterschied sich in nichts von dem der anderen Dorfbewohner, und doch nahm sie eine besondere Stellung ein: Sie hatte die angeborene Begabung zu erzählen. Alle kannten in diesen Dörfern Sprüche und Reime, alle beherrschten die Spiele und Tänze. Sie wußten Bescheid zu sagen über die hergebrachten Gewohnheiten bei den Festen des Jahres- und Lebenskreislaufes. Die meisten konnten bei den ortsbekannten Liedern wenigstens mitsingen. Viele erzählten Schwanke, kurze, lustige Geschichtlein oder jene gruseligen Gespenstergeschichten, die sich angeblich wirklich zugetragen hatten.
In jedem Dorf gab es aber nur ganz wenige Menschen, die imstande waren, so lange, kunstvoll ausgewogene Erzählungen, wie es die Märchen sind, wiederzugeben. Märchenerzählen ist gar nicht leicht, und es gibt auch in Dörfern mit einer ungebrochenen Überlieferung nur wenige, die unverworren und zusammenhängend erzählen können. Die übrigen wissen wohl Bruchstücke, sind aber nicht imstande, daraus eine vollständige Erzählung zu formen. Auch früher hörten die meisten bei den großen Zusammenkünften nur zu und überließen das Erzählen jenen, die aus ihrer natürlichen Begabung dazu berufen waren.
Natürlich gab es umso mehr gute Erzähler, je mehr das Erzählen noch gepflegt wurde, denn zur Begabung muß auch die Übung treten. Was nützt es, wenn man noch so gut erzählen kann und niemanden findet, der einem dabei zuhören will? Gerade dadurch, daß die guten Erzähler zum Erzählen immer wieder aufgefordert werden, entwickelten sie ihre Begabung zu höchster Meisterschaft.
Ich habe Erzähler gesehen, die ihre Märchen nicht nur erzählten, sondern spielten wie der alte Schlepp-Vetter aus Augustin, der in senem Dorfe Kleinrichter, Nachtwächter und Schuster war.
Wenn es manche nicht für möglich halten, daß einfache Leute aus dem Volke Märchen erzählen können, ohne sie je gelesen zu haben, unterschätzen sie das ausgezeichnete Gedächtnis begabter Erzähler, und man kann feststellen, daß die Mehrfähigkeit zunimmt, je weniger man sich auf Gedrucktes und Geschriebenes stützt. Es ist eine Tatsache, daß es gerade unter Leuten, die kaum lesen und schreiben können, weil sie es entweder nie gelernt oder später nicht mehr geübt haben, Meistererzähler gibt, die auch die schwierigsten Zusammenhänge im Kopfe behalten und deren Märchen wirklich abgerundete Kunstwerke sind.
Die Pallanik-Ahnl war so eine der berufenen Märchenerzähler im Volke. In ihren Märchen ist nichts zu viel gesagt und nichts fehlt. Ihre Erzählungen sind vollständige Gebilde. Wie frisch und lebendig wirkt allein die so häufige direkte Rede! Sie erzählte nicht schleppend und schwerfällig, wie man das von einem Menschen erwarten würde, der sich in der Schule nie im Nacherzählen geübt hat. Ihre Ausdruckskunst hatte sie nicht aus Büchern gelernt.
Sie konnte wohl lesen und schreiben, aber das war bedeutungslos für ihre geistige Entwicklung. Aus Büchern, die sie später in die Hand bekam, merkte sie sich wenig. Es prägte sich nicht in ihr Gedächtnis ein. Alle ihre Erzählungen hatte sie als kleines Schulmadel gelernt, und sie hatte davon kein Wort vergessen. Sie hatte kein einziges von diesen Märchen gelesen, alle stammten aus der mündlichen Überlieferung. Ursprünglich wußte sie gar nicht, daß es auch gedruckte Märchen gäbe. Mit größtem Erstaunen entdeckte sie, daß ihre alten Geschichten vom „Schneewittken" und vom „Aschenpudl" auch „ausgedruckt" zu lesen standen, als eine Nachbarin eine Auswahl von Grimmschen Märchen aus der Stadt nach Hause brachte und aus diesem Buche beim Federnschleißen vorlas.
Nein, ihre Geschichten hatte die Ahnl aus keinem Buche. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie erzählt, als sie noch ein Kind war. Ihre Eltern waren selbst ortsbekannte Erzähler, beide hatten ihre eigenen Geschichten. Die Mutter überlieferte die Erzählungen, die sie von ihren Eltern her wußte, und der Vater hatte seine Märchen vom Großvater übernommen. Weiter konnte ich die Herkunft der Märchen nicht zurückverfolgen, aber soviel war sicher: weder die Pallanik-Ahnl noch ihre Eltern hatten Märchen je gelesen, ihre Märchen stammten aus dem Strome lebendiger Volksüberlieferung, aus der Weitergabe von Mund zu Mund.
Und wir lernen noch etwas: Was sind schon hundert Jahre in der Geschichte eines Märchens? Zwei Menschen nur sind notwendig, um es über diese Zeitspanne hinweg lebendig zu erhalten, denn es war 50 Jahre her, seit die Ahnl ihre Märchen aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren damals selber nicht mehr jung, und auch sie hatten ihre Märchen als Kinder gelernt. In diesen hundert Jahren waren die Märchen nicht zerflattert und verdorben. Im Gegenteil, sie waren vollständig und klar geblieben, obwohl weder die Ahnl noch ihre Eltern ein Buch als Gedächtnisstütze verwendeten.
Es gab wohl ein Buch in dem Elternhaus der Pallanik-Ahnl. Ich war zuerst sehr enttauscht und fürchtete schon, dieses „Büchl" sei am Ende doch ein Märchenbuch. Aber dann, als ich es in der Hand hatte - die Ahnl hatte es von ihren Eltern geerbt - atmete ich auf. Das „Büchl" war ein ganz stattlicher Foliant von etwa 20 cm Dicke. „Caspari Erhards christliches Hausbuch oder das Große Leben Christi" und einige Zeilen barock verschnörkelter Untertitel standen auf dem vergilbten Einband. Zuletzt hieß es: „Dem aller-durchläuchtigsten, großmächtigsten und unüberwindlichsten Fürsten und Herrn Carolo, dem sechsten dieses Namens gewidmet". Als Jahreszahl entdeckte ich 1740.
Das also war das einzige, aber ehrfürchtig geliebte Buch im Elternhaus der Pallanik-Ahnl. Ich blätterte es durch. Aber ich muß gestehen, ich konnte mich in diesem Gewirr von barocken Formeln nur schwer zurechtfinden. Die Pallanik-Ahnl und ihre Mutter hatten mit einem Gefühl, das man einen sechsten Sinn nennen möchte, gerade jene im biblischen Zusammenhang fast nebensächlichen Erzählungen herausgefunden, die ihrem eigenen mythischen Erzählgut am nächsten standen.
Die Mutter pflegte ein Stück aus dem Buche vorzulesen, und da die Kinder die umständliche, überladene Sprache doch nicht verstehen konnten, erzählte sie ihnen nachher mit einfachen, schlichten Worten, was da eigentlich darinnenstand: von der heiligen Magdalena, die in einem Berge wohnte, von Maria und Josef auf ihrer Herbergsuche und Flucht.
Die Pallanik-Ahnl verwahrte das „heilige Büchl" als einen kostbaren Schatz, und auch daraus erzählte sie beim Federnschleißen. „Das geht noch übers Evangeli", sagten die Nachbarn, wenn sie zuhörten. Auch in diesen Heiligengeschichten wurden die Gestalten zu Menschen von Fleisch und Blut, aber die Sprache des Buches färbte auf die Erzählungen ab. Rein künstlerisch gelangen ihr die Märchen besser. Das steht ohne Zweifel fest.
Mundartmärchen sind gesprochenes Gut. Was im Schriftbild oft als Härte erscheint, ist in der Rede guter Erzähler durchaus fließend und glatt. Die in der natürlichen Rede verwendete Zeitform der Vergangenheit für vergangenes Geschehen sieht im Schriftbild schwerfällig aus. Liest man die Mundartmärchen vor, gewinnen sie wieder ihren ursprünglichen Reiz.
Ich habe in den letzten 50 Jahren in den verschiedensten Kreisen von Kindern, Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen über meine Sammelarbeit erzählt und Märchen in ihrer mundartlichen Urform wiedergegeben. Es kam mir vor allem darauf an, den Tonfall und die Satzmelodie beizubehalten. Es hat mich selber überrascht, wie dankbare Zuhörer ich überall fand. Der Beifall, der mir als „Märchentante" überall gezollt wurde, gebührt aber nicht meiner Vortragskunst, sondern den Erzählern im Volke, die mein Vorbild gewesen waren.
Gánt war früher sehr reich an guten Erzählern, und die Zuhörer waren ungemein aufnahmefreudig. Ich hörte von einem alten Mann, der auf dem Heimweg vom Schnitt ununterbrochen erzählte. Wenn sie auf einem der großen Güter die Erntearbeit beendet hatten, machten sie sich am Abend auf den Heimweg. Wenn sie beim Morgengrauen in ihr Heimatdorf zurückkamen, war Seine Geschichte noch immer nicht zu Ende. Vor der Kirche setzten sie sich ins Gras und hörten dem alten Mann noch eine halbe Stunde zu, bis sein Märchen aus war. Dann erst gingen sie heim in ihre eigenen Häuser und begannen mit der Tagesarbeit.
Ein anderer saß am Sonntagnachmittag auf der kleinen Bank vor seinem Haus. Um ihn herum standen die Männer und Weiber, die Burschen und Mädchen und hörten zu, wenn er stundenlang erzählte. Keiner der Zuhörer wurde dabei müde oder ging fort, solange er erzählte.
Von den blinden Mädchen aus Gánt war schon die Rede. Sie waren in Amerika auf die Welt gekommen, weil ihr Vater ausgewandert war, wie das so viele seiner Landsleute voll von Erwartungen auf eine bessere Zukunft getan hatten. Enttauscht war er wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Obwohl die ,blinden Mädeln", Mary und Lina Herchenröder, von Geburt an blind waren, waren sie beim Federnschleißen und bei Hochzeiten gerngesehene Gäste. Sie wußten viele vielstrophige Balladen, und wenn sie zweistimmig das Ehestandslied sangen, war das der Hölnepunkt jeder Hochzeit. Ihre Märchen hatten sie von ihrem Großvater gelernt, einem Manne, der starb, als sie noch Kinder waren.
Im Haus der Pallanik-Ahnl war das Erzählen eine liebe Gewohnheit. An den langen Winterabenden holte die Mutter ihr Spinnrad hervor. Sie strickte Strümpfe für eines der acht Kinder oder flickte ein zerrissenes Röcklein. Dabei erzählte sie. Die Kinder rückten ihre Stühle ganz dicht an die Mutter heran, daß ihnen nur ja kein Wort entging. Der Vater lag ausgestreckt auf der Ofenbank und hatte die Pfeife im Mundwinkel. Junge und Alte kamen aus der Nachbarschaft zusammen, die auch beim Erzählen dabeisein wollten.
Die Kinder bettelten: „Muida, verzählt's was!" Sie bestellten sich immer ganz bestimmte Geschichten. Die Mutter wußte zwar viele Märchen, aber am schönsten war es doch, wenn sie eines erzählte, das man schon ganz genau kannte. Wenn sie geendet hatte, gaben sich die Kinder noch lange nicht zufrieden. „No a Stückl, Muida, verzählt's no a Stückl!" Aber die Mutter wollte nicht mehr recht.
Da löste sie der Vater ab, und nun erzählte er. Die Pfeife war noch immer im Mundwinkel, aber er hatte sich aufgerichtet und spielte seine Märchen mehr, als er erzählte. Alle sahen ihm zu und lachten mit ihm, denn er steckte sie alle an mit seiner Fröhlichkeit.
Besonders schön war das Federnschleißen im Elternhaus der Pallanik-Ahnl. Da wollte jeder gerne mithelfen, wenn er dafür so schöne Geschichten zu hören bekam. Die kleine Lisi war die eifrigste Zuhörerin, und sie merkte sich jedes Wort, das sie damals gehört hatte, und ihre Enkelkinder waren ihr dankbar dafür.
Im Sommer gingen viele Bauern auf Erntearbeit auf die herrschaftlichen Großgrundbesitze der näheren und weiteren Umgebung. Da die Felder viele Kilometer weit entfernt waren, blieben sie oft wochenlang aus und führten ein rechtes Zigeunerleben. Sie bauten sich große Piachenzelte für die Nacht. Den Tag über hieß es fest zupacken. Am Abend kochten sie dann am offenen Feuer in einem großen Kessel ihr Essen.
Als die Lisi stark genug war, mitzutun - sie war noch ein halbes Kind, aber für sie fing die schwere Arbeit früh an -, ging sie immer mit in den Schnitt. Sie war meistens die Jüngste, es waren sonst nur arbeitsgewohnte Männer und Weiber. Ihr Vater war auch immer dabei. Die Lisi freute sich immer auf den Abend. Da saßen sie lange um das verglimmende Feuer beisammen und sangen und erzählten.
Es wurde dunkel, die Sterne leuchteten auf. Leise verknisterte das Feuer. Ein harter Arbeitstag war zu Ende. Aber man hatte darauf vergessen, nun war Feierabend. Der Vater mußte Märchen erzählen, und alle hörten gespannt zu. Er war nicht der einzige, der etwas zum besten gab. Es war oft noch ein alter Mann mit, der erzählen konnte, daß sie nicht müde wurden und bis tief in die Nacht beisammenblieben, obwohl es am nächsten Morgen wieder zeitig an die Arbeit ging. Manch ein Märchen hat die Pallanik-Ahnl in einer Sommernacht am offenen Feuer erlauscht.
Alle Geschichten, welche die Ahnl in ihrer Jugend aufgenommen hatte, behielt sie im Kopf und vergaß sie trotz Not und Leid nicht. Sie erzählte sie ihren Kindern und Kindeskindern immer wieder, und deshalb legte sie sich auf einen bestimmten Wortlaut fest. Ich schrieb ein Märchenzweimal auf -zwischen der ersten und zweiten Niederschrift lag ein halbes Jahr. Trotzdem stimmten die beiden Fassungen fast Wort für Wort überein. Ganze Sätze blieben vollkommen gleich.
Die Ahnl erzählte auch beim Kukuruzschalen und Federnschleißen. Sie scheute sich nicht, vor vielen Leuten zu erzählen, weil sie wußte, daß sie es konnte. Aber sie war zu bescheiden und still, als daß sie sich in einem großen Kreise wohl gefühlt hatte. Am liebsten hatte sie ihre Kinder und Enkelkinder um sich.
Ihre Töchter hatten ihre Begabung zu erzählen von ihr geerbt. Sie erzählten, wie es ihrer Veranlagung entsprach, die Kathi ruhig und sanft, die Lisi lebhafter und fröhlicher. Aber beide wußten genau Bescheid über jede einzelne Erzählung, und sie erzählten zusammenhangend und fehlerlos. Als Professor Künzig mich 1959 in den Kreis Eschwege in Hessen mitnahm, um von den blinden Mädeln weitere Tonaufnahmen zu machen - ich habe von den vier authentischen Märchenschallplatten und den drei Langspielplatten schon berichtet, die er von diesen für die Wissenschaft so bedeutungsvollen Märchenfrauen herausgab -, sprach ich auf der Straße ein paar Frauen an, die gerade auf dem Weg von der Kirche waren und deren Tracht verriet, daß sie aus den deutschen Dörfern in Ungarn stammten. Es war ein besonderes Spiel des Zufalls, daß es gerade die Kathi war, mit der ich auf diese Weise ins Gesprach kam.
Obwohl mehr als 20 Jahre vergangen waren, seit ich sie das letzte Mal in Ungarn gesehen hatte, freute sie sich herzlich über das Wiedersehen und war gleich bereit, die alten Märchen ihrer Mutter zu erzählen. Für mich war es ein Erlebnis, die Märchen der Pallanik-Ahnl in der fremder hessischen Umwelt wiederzuhören. Der damals 10jährige Enkel der Ahnl lag gerade mit einer leichten Erkältung im Bett, hörte aber mit großen Vergnügen zu und kannte die Geschichten ganz genau. Zu Hause sprach die Kathi noch ihre alte ungarndeutsche Mundart, ihr Bub verstand sich aber auch schon mit seinen hessischen Schulkameraden auf ihre Art. Dieselben Geschichten, die uns Kathi in Hessen erzählt hatte, könnt Professor Künzig 1967 auch von Lisi aufnehmen, die in der alten Heim: in Gestitz bleiben durfte. Auch ihr Schicksal hatte der Krieg vollkomme verändert: Einen Tag, nachdem ihr Mann hatte einrücken müssen, war das kleine Söhnchen mit 16 Monaten gestorben, und schon drei Monate später fiel ihr Mann in Kroatien. Der Krieg verschonte auch Gestitz nicht. Es fanden dort im letzten Kriegsjahr schwere Kämpfe statt, so daß das Haus, in dem die Pallanik-Ahnl gewohnt hatte, niedergerissen wurde. Die Ahl selber hatte es nicht mehr miterlebt, weil sie schon 1942 gestorben war. Der Ahnl machte den Krieg noch mit und starb 1954. Der Sohn, bei dem die beiden Alten gewohnt hatten, zog in ein Nachbardorf. Allmählig wurden die Kriegsschäden wieder beseitigt und neue Häuser gebaut
Lisi heiratete noch einmal einen Gestitzer mit dem im Dorf sehr vorkommenden Namen Laub. Von ihr hat Professor Künzig bei seinem Besuch in Gestitz im Jahre 1967 eine Anzahl von Geschichten auf Tonbandern aufgezeichnet, und den Schutzumschlag der dritten Langspiel-platte „Schwanke aus mündlicher Überlieferung" ziert ein Bild der Lisi Laub, das sie als begabte Erzählerin zeigt: Sie strahlt Fröhlichkeit aus mit einer lebhaften Gebärde und Mimik und erinnert dabei an den Vater, den Pallanik-Ahnl, der ja so prächtig zu erzählen verstand. 1981 ist sie leider gestorben, und auch ihre Schwester Kathi lebt nicht mehr.
Die größeren Enkelkinder der Ahnl erzählten schon recht gut. Das Märchen vom Urberl habe ich 1938 von der damals fünfjährigen Mirdi aufgezeichnet. Ich höre noch ihr feines, dünnes Kinderstimmchen und sehe die Kleine vor mir, wie sie schüchtern begann, aber dann, als ihr die Ahnl freundlich zulächelte, immer mutiger wurde und schließich tapfer und erstaunlich gut ihr Geschichtlein zu Ende führte. Zuerst hatte sie ihren Kopf unter der Schürze der Großmutter versteckt, guckte aber dann hervor und stand tapfer da, immer noch ein bißchen an die Großmutter geschmiegt. Es lockte mich damals sehr, das Heft und den Bleistift wegzulegen und nur zuzuschauen, aber dann siegte mein wissenschaftlicher Ehrgeiz, und ich schrieb die Erzählung der Kleinen mit.
Es läßt sich als Regel angeben: Das Märchen wurde in wenigen begabten Erzählerfamilien weiterüberliefert. Ich habe noch keinen bedeutenden Märchenerzähler gefunden, der nicht den Grundstock seiner Märchen aus der Familientradition übernommen hätte. In der Familie der Pallanik-Ahnl überblicken wir sechs Geschlechterfolgen, die hervorragend erzählen konnten! Die Märchen sind den Kleinen nicht weniger lieb, als sie es den Urgroßeltern waren. Wie viele mochten es wohl vor ihnen gepflegt haben, als sie es übernahmen? Ob die Kinder die Märchen überliefern werden, hangt von den äußeren Umständen ab. Wenn sich ihnen keine Gelegenheit zum Erzählen mehr bieten wird, werden sie auf den Überlieferungsschatz vergessen. Finden sie aber Zuhörer, werden sie mit derselben Liebe an den Märchen festhalten wie die, die sie ihnen als Vermächtnis anvertraut haben.
Ich mußte es immer wieder feststellen, und auch andere Sammler haben die Tatsache bestätigt, daß Frauen am liebsten im Kreise ihrer Familie erzählen. Die Männer fühlen sich wohler in einem großen Kreise von Zuhörern. Je mehr Nachbarn beisammen sind, desto lieber erzählen sie, und der alte Schäffervetter aus Kozma ging wohl auch eine Stunde weit nach Gestitz, wenn er im eigenen Dorf keine geeignete Zuhörerschaft fand. Er wußte in Gestitz zwei echte Märchenbrüder, mit denen er um die Wette erzählen konnte.
Den einen von den beiden lernte ich vor 50 Jahren noch kennen, aber das Alter war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er war schon fast ganz taub, und trotzdem konnte er das Erzählen noch immer nicht lassen. Die Kinder und Nachbarn hatten sich ein ganz eigenartiges Mittel zurechtgelegt, um ihm beizubringen, daß sie eine Geschichte von ihm erwarteten. Sie zeigten ihm mit ihren Fingern, wie lange das Stücklein sein sollte. Ein ganzer Finger war eine stundenlange Erzählung, das oberste Glied des kleinen Fingers nur ein kurzes Witzstückl.
Ich war einmal selber dabei, als der Alte erzählte. Wir hatten ihm deutlich gemacht, daß wir eine lange Geschichte von ihm hören wollten. Zunächst saß er teilnahmslos und ganz in sich versunken da, als habe er uns nicht verstanden. Wir hatten schon fast wieder auf ihn vergessen, da fing er zu erzählen an. Seltsam leer und hohl klang die gebrochene Stimme durch den Raum. Ein kleines Kind fing an zu schreien. Er hörte es nicht. Langsam und eintönig erzählte er seine Geschichte zu Ende. Er muß einmal ein guter Erzähler gewesen sein, aber nun war er vergeßlich und zerstreut. Sein Gedächtnis hatte nachgelassen, daß er manches durcheinanderbrachte.
Der Pallanik-Ähnl war uns mit Recht als guter Erzähler empfohlen worden. Nicht umsonst war sein Ruhm auch schon ins Nachbardorf gedrungen. Er war im Dorf als Erzähler sogar bekannter als die Ahnl, weil er öfter in einem großen Kreise erzählte. Märchen lagen ihm nicht so sehr. Er war ganz anders eingestellt als die Ahnl. Sie war eine echte Märchenerzählerin, eine von den treuen Hütern der Überlieferung, die sich ihrem Stoff gegenüber verantwortlich fühlten und kein Wort weglassen, aber auch nichts Neues hinzufügen wollten. Das wäre ja dann falsch! Märchen waren ihr etwas Unantastbares, das nicht verändert werden durfte.
Ein Märchen, es war eine Spielform zum Grimmschen „Machandelboom", hatte sie nicht mehr ganz im Kopf. Frau Lisi hatte mir erzählt, daß sie es einmal von ihrer Mutter gehört hatte. Ich hatte im Schildgebirge selbst einige sehr interessante Spielformen dieses Märchens gehört, und so mochte es der Ahnl wohl auch zu Ohren gekommen sein. Sie hatte es aber nicht in ihren eigenen Erzählschatz aufgenommen und war durch nichts zu bewegen, wenigstens die Restteile, die sie noch behalten hatte, zu erzählen. Alle guten Märchenerzähler, die ich bisher kennengelernt habe, fühlten sich zu höchster Treue ihren Märchen gegenüber verpflichtet. Es kam wohl vor, daß einer eine Stelle breiter ausmalte als sonst, wenn ihm die Zuhörer besonders aufmerksam folgten. Aber keiner wagte es, etwas Wesentliches zu verändern oder gar etwas hinzuzudichten. Das ging sogar so weit, daß gewisse formelhafte Wendungen wörtlich übernommen wurden, auch wenn der Sinn nicht mehr verstanden wurde.
Der Ahnl war ganz anders. Er hatte wohl auch einige Schwanke in seinem Erzählgut, für die er sich eine ganz bestimmte Art der Erzählung zurechtgelegt hatte, weil er wußte, daß sie so am besten wirkten. Im übrigen aber steckte er voll von schnurrigen neuen Einfällen. Er sagte etwa: ,Já, ja, wie i a klaner Bua war - i häb schon Hosen ánghábt, aber der Ahnl is no in Rock gángen - sein ma in Wáld nausgángen und hábn Schneeveigerl ábbrockt." -„Aber Ahnl", meinte die Lisi, „wie kann denn das sein, das ös schon Hosen anghabt hábts, und enker Ahnl is no so klan gwest?" Da schmunzelte der Ahnl übers ganze Gesicht, er hatte so ein fröhliches Spitzbubenlachen: „Glaubst es vielleicht net?"
Er hatte ganze Geschichten ersonnen. Eine besonders schöne handelte von zwei Kiniglhasen (Kaninchen), mit denen er einen Sack Mehl in die Mühle führte. Seine beiden Töchter haben sich nicht nur die Märchen ihrer Mutter gemerkt, sondern auch die Hasengeschichte ihres Vaters und haben sie einige Jahrzehnte später, die eine in Hessen und die andere in Gestitz, Herrn Professor Künzig wiedererzählt.
Die Ahnl und der Ahnl verkörperten die beiden grundverschiedenen Arten von Erzählern im Volke: Die Ahnl war die treue, überlieferungsverhaftete Märchenerzählerin. Der Ahnl war einer von den Künstlern im Volke. Er stand über dem Stoff, nahm nur einzelne Motive auf und schaltete im übrigen ganz frei damit. Auch in seinen erfundenen Geschichten flocht er manchmal Märchenmotive ein. Aber er erzählte, wie es ihm gerade einfiel, nicht wie er es übernommen hatte. Nur in den Schwänken hielt er sich meistens an die alte Volksüberlieferung
Ich dart vielleicht ein Stück aus einem Brief der Ahnl wiedergeben, der zeigt, wie sie dachte. Sie schrieb in ihrem schwerfälligen Deutsch: „... so lang wir noh leben werden, werden wir es nicht vergessen, die so manche Frohe stunden die wir oft mit inen zu gebracht Haben, so Lib und Freundlich wahren sie zu uns, da Fühlten wir uns so wohl, u. können sie auch nicht vergessen, auch unsere kleine Midi Fragt Jeden Dag. wan komen den die Neni, sie sol komen, u, wen man sie Fragt, wie wirst du sagen, so sagt imer ,Grüß Gott, sie sagt sie solen komen u da bleiben u. nicht mehr Fort gehen, es vergeht kein Dag und vileicht keine stunde, wo wir nicht sprechen von inen, die Kinder könen ihnen nicht vergessen, es tud mir Leid, das ich nicht gesund Wahr, so kann man doch nicht in gute Laune sein, es Freide uns so das so Junge Freilein sie mit so alte gebrechliche Leute abgeben, u der Ehnl sagt, wen er nochmal kleiner Knabe wird, dan wird er vierspanig, mit den Kinichl Hasen komen u wird sie besuchen."
So war sie, die gute, treue Ahnl, so bescheiden und dankbar für jedes Wort, so herzlich und schlicht. Ich kann mit eigenen Worten nicht mehr sagen als dieser Brief. Die Pallanik-Ahnl war eine von vielen. So waren sie alle, die Märchenerzähler im Volke. Es waren Menschen, die mitten im Leben drinnen standen und denen keine Arbeit zu schwer war. Es waren keine Schwärmer und Müßiggänger, die sich das Blaue vom Himmel heruntertraumten und zu nichts anderem taugten. Es waren keine Schwätzer und Possenreißer, die sich selber gerne im Mittelpunkte sahen und den anderen einen Kasperl vormachten. Es waren stille, frohe Menschen der Tat, die berufen waren, die Märchenüberlieferung durch die Jahrhunderte weiterzutragen.
Die Pallanik-Ahnl erzählte keine einzige Gespenstergeschichten hörte von anderen viel von Hexen und Truden, von grausigen Wiedergängern, Marksteinversetzern und allerlei unheimlichem Spuk, der sich in Gestitz oder Gánt an genau bezeichneten Stellen zugetragen haben sollte. Die Ahnl hatte wohl auch davon gehört, es aber nie geglaubt. Diese Welt des Schreckens war ihr vollkommen fremd.
Sie fürchtete sich nicht, nach dem Gebetlauten im Freien zu sein. Sie ging auch mitten in der Nacht durch den Wald, wenn es gerade notwendig war. In ihren Märchen lebt eine ganz andere Welt als in den so verbreiteten Gespenstergeschichten. Der starke Hansl fürchtet sich vor niemandem und nimmt auch den Kampf mit den Teufeln auf, daß sie ihn um Gnade bitten.
In dieser Sammlung stehen nicht alle Märchen, die ich von der Pallanik-Ahnl aufgeschrieben habe. Auch unter ihren Geschichten gibt es solche, die in ihren Wendungen und im Stil an Flugblattmärchen erinnern, und zwar nicht unter den Märchen, die sie von den eigenen Eltern übernommen hat, sondern in den außer Haus gehörten. Um die Jahrhundertwende erschienen in einem Winkelverlag in Budapest billige, geheftete Büchlein, die im Volke eine sehr große Verbreitung fanden. Sie behandelten Stoffe aus den Volksbüchern: die Geschichte vom gehörnten Siegfried, von Genovéva, vom Dr. Faust und vom Schwanenritter, von den Haimonskindern, daneben aber auch Werke der Hochkunst, wie etwa das Käthchen von Heilbronn, den Freischütz, mittelalterliche Epen, z. B. Wigalois vom Rade, aber auch Trivialliteratur. So ein Büchlein heißt z.B. „Die geheimnisvolle Burgruine oder Furchtlos und treu. Eine schöne, lehrreiche, geist- und herzveredelnde Geschichte. Mit fünf schönen Bildern."
Es ist sehr bezeichnend, daß von den vielen Flugblattmärchen, die im Volk verbreitet worden sind, nur ganz wenige wirklich ins Erzählgut Eingang gefunden haben. Viele sind gekauft, gelesen, aber dann wieder vergessen worden. Als Ganzes hat man sie nicht erzählt, höchstens in Bruchstücken und sehr verworren. Einige hat man ins Erzählgut aufgenommen und mit derselben Sorgfalt weiterüberliefert wie die angestammten Märchen. Es kann kein Zufall sein, daß das gerade die Erzählungen sind, die aus volkstümlichen Motiven aufgebaut sind. Die Nacherzählungen von Flugblattgeschichten sind meistens unschwer zu erkennen. Die Handlung wird nicht geradlinig weitergeführt, sondern bricht ab und setzt wieder neu ein. Die Helden sind nicht namenlos oder haben nicht die gelaufigen Namen wie Hansl oder Peter, sondern heißen Floribunda, Wigalois, Griseldis, Genovéva usw.
Im Märchen vom starken Hansl fehlt im Druck das zum Schluß einschachtelte Märchen von der Königstochter, die durch nichts zum Lachen gebracht werden konnte. Es ist eigentlich ein Schwank, der zu den beliebtesten Erzählungen im Schildgebirge gehört und in recht eindeutigen Bildern zeigt, wie der dumme Hansl die Königstochter zur Frau gewinnt. Ich habe dieses ziemlich lange Schwankmärchen weggelassen, weil es für den Fortgang der Handlung keine Rolle mehr spielt und durch seine Derbheit vielleicht Anstoß erregen könnte. Die anwesenden Prinzen und Fürsten hören begeistert zu, als der Bauer sein Witzstückl erzählt, und bei Hochzeiten war es früher durchaus Schwanke und Märchen zu erzählen.
Die Schilderungen der Hochzeiten, die den fröhlichen Ausklang vieler Märchen bilden, sind direkt aus dem Leben gegriffen mit allen Einzelheiten, dem Festmahl, den Gesundheitssprüchen und Ehrentänzen. Es scheint überhaupt, als waren diese Märchen in den kleinen Dörfern im Schildgebirge in Ungarn entstanden, so lebensnah und anschaulich wird die kleine Welt geschildert, in der die Pallanik-Ahnl daheim war.
Wir finden ihre Umwelt wieder, so wie sie vor 50 Jahren in Wirklichkeit aussah: die aneinandergereihten sauberen Häuschen mit ihren Höfen und Laubengängen längs der Dorfstraße, auf der die Kinder spielen, die Felder, auf denen die Bauern ihre Arbeit verrichten, die Weingarten, in denen sie den Wein für den eigenen Bedarf ziehen, die Kellergassen mit den Preßhäuschen, in denen neben dem Wein auch das Fleisch aufbewabewahrt das „Gwölb", der kleine Kaufmannsladen, in dem man sich mit dem versorgen kann, was man nicht selber herstellt, das Gemeindeamt und die kleinen Häuschen der Taglöhner am Dorfrand, die Gemeindeweide, wo die Schweine des ganzen Dorfes gehütet werden, die ausgedehnten Wälder und schon als etwas Fremdes und Großartiges Häuser mit zwölf Zimmern und Schlösser, in denen jede Königstochter ein eigenes Schlafzimmer besitzt.
Auch in den Märchenhelden vermeint man Archetypen aus der unmittelbaren Umgebung der Ahnl wiederzuerkennen: die Kinder der Kleinbauern und Taglöhner, die sich schon als Halbwüchsige einen Dienstplatz suchen müssen, weil im Vaterhaus Not oder Unfrieden herrscht, die Bauern, die auf ihren Feldern arbeiten, die Handwerksburschen, die in der Welt umherziehen und Erfahrungen sammeln, ehe sie sich irgendwo niederlassen, die Holzhacker, die im Walde ihr kärgliches Brot finden, Jäger, die auf den herrschaftlichen Besitzungen den Dorfbewohnern ihr Brennholz zuteilen, Kaufleute, die auf die benachbarten Markte fahren müssen, um sich mit dem zu versorgen, was sie für ihren Laden brauchen, Wirtsleute und Kleinrichter, die Neuigkeiten austrommeln, und als Ärmste und Rechtloseste unter den Dorfbewohnern Schweinehirten und Mädchen, die das Geflügel hüten.
Wenn man sich die Könige und Grafen dieser Märchen näher ansieht, wird einem bewuß, wie wenig sie doch mit absolutistisch herrschenden Monarchen von großen Reichen zu tun haben. Im besten Falle sind diese Fürsten Großbauern mit Gärtnern und Köchen in ihrem Gesinde, und ihr Reich geht nicht über die Grenzen eines Dorfes hinaus. Der König selber bestellt einen neuen Schweinehirten und Gärtnerjungen, und wenn er auch in einem Schloß wohnt, ist nie von Ministern und Hofleuten die Rede, sondern er muß sich um alles selber kümmern.
Letzten Endes sind alle Standesunterschiede ausgelöscht, und jeder kann König werden, wenn er nur tüchtig ist und schwere Aufgaben löst. Gerade in Ungarn waren die Standesunterschiede besonders stark ausgeprägt. In den Märchen sind die Bauern den Herren durchaus ebenbürtig. Sie sind keinesfalls unterwürfig, sondern sich ihrer Würde voll bewußt. Sie sagen unbefangen ihre Meinung, wenn sie vor den König hintreten.
Auch Märchenhelden aus den ärmlichsten Verhältnissen vergessen nie auf das kleine Heimatdorf, aus dem sie stammen, und kehren dahin nach ihrem sozialen Aufstieg zurück, um ihren Eltern zu danken und ihnen einen sorglosen Lebensabend zu ermöglichen. Welch liebenswürdiger Gedanke! Mit besonderer Sorgfalt schildert die Pallanik-Ahnl dieses Wiedersehen mit den Eltern, den alten Freunden und Kameraden. Als der starke Hansi seine Hochzeit mit der Königstochter halt, vergißt er nicht, seine Mutter und die Verwandten und andere Dorfgenossen einzuladen. „Er hat sich nicht geschämt, sondern er war noch stolz auf sie."
Die Märchenhelden haben alle die Eigenschaften, die in der dörflichen Lebensordnung besonders geschätzt wurden: Treue und Aufrichtigkeit, Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Willensstärke, Furchtlosigkeit und Besonnenheit. Wie viele Sprachinseldeutsche, die bis nach Amerika fuhren, um ihr Glück zu versuchen, sind auch die Märchenhelden voll Tatendrang. Es zieht sie in die Ferne, und sie scheuen kein Abenteuer.
Es sind tollkühne Burschen darunter wie der starke Hansl, der mit übernatürlichen Kräften begabt ist. Als die Seile, an denen ihn seine Kameraden in die Tiefe gelassen haben, zu Ende sind, springt er einfach in den Abgrund. Er weiß nicht, wo er landen wird, aber für ihn gibt es kein Zurück. Auch Mädchen beweisen ihren Mut, wie die jüngste Kaufmannstochter, die sich durch keine noch so argen Schrecknisse einschüchtern läßt und unbeirrbar ihren Weg geht.
Und der Schneidergeselle? Man kann ja nicht sagen, daß er ein Held ist. Er ist ein Windbeutel und Aufschneider, der falsche Vorstellungen weckt, aber letzten Endes doch mit List und Schlauheit auch die schwierigste Lage meistert. In einer Spielform dieses Schwankmärchens, die ich in einem Nachbardorfhörte, war die prahlerische Inschrift, die an das Grimmsche „Sieben auf einen Streich" erinnert, „Neune derschlagn auf an Hieb ohne Zorn." In der Fassung der Pallanik-Ahnl ist das Schwankhafte noch mehr betont, geradezu übersteigert, aber vielleicht gönnt man dem Schneidergesellen gerade deswegen seinen sozialen Aufstieg.
Ohne daß viel darüber geredet wird entspricht die Haltung und Handlungsweise der Märchenhelden einer Gesinnung, die lebensbejahend und durchaus positiv ist. In kleinen Szenen schildert uns die Pallanik-Ahnl, wie etwa der Ichweißnicht sein Versprechen hält und Seine Pflicht tut. Eben dadurch, daß er immer fleißig arbeitet, gewinnt er die Achtung der jüngsten Königstochter. Sie ist alles andere als ein verwöhntes Prinzeßchen und wählt ihn zu ihrem Ehemann, weil sie seinen wahren Wert erkennt. Aus freiem Willen folgt sie ihm in die Verbannung.
So sehr die Landschaft und die Menschen ihrer eigenen Umgebung den Märchen der Pallanik-Ahnl ihr ganz bestimmtes Gepräge geben, je genauer man verschiedene Typen aus ihrer unmittelbaren Umwelt zu erkennen vermeint, die Motive, aus denen die Märchen der Pallanik-Ahnl zusammengesetzt sind, sind die alten, unvergänglichen Bausteine, aus denen alle echten Volksmärchen bestehen.
Wenn man einige Erfahrung beim Aufzeichnen von Volksmärchen besitzt, hat man bald ein sicheres Gefühl dafür, ob es sich um ein echtes Märchen oder um eine willkürliche Kunstdichtung handelt. Man merkt es schon an der äußeren Form: am strengen Aufbau, an der Rhythmik der Gliederung, an der Geradlinigkeit der Erzählung trotz mannigfacher Wiederholungen. Der Märchenkenner weiß auch schon meistens, wenn er einen Teil gehört hat, wie es weitergehen muß. Jedes Märchen scheint zwar neu, aber es ist einem doch seltsam vertraut, weil es sich aus dem alten, nicht allzu umfangreichen Motivschatz aufbaut.
Diese Motive sind zu geschlossenen Erzählungen angeordnet, und man merkt es genau, wenn der alte Zusammenhang gestört ist. Der Aufbau der Märchen, die Art und Weise, wie die einzelnen Motive aneinandergereiht sind, läßt sich mit dem Aufbau unserer Sprache vergleichen, ihrer inneren Gesetzmäßigkeit, die uns zwingt, das Subjekt mit dem Prädikat übereinzustimmen und den Wörtern ganz bestimmte Endungen zu geben, obwohl uns diese Regeln beim Sprechen gar nicht mehr bewußt sind. Wir können sie uns durch die Sprachlehre bewußtmachen und ihre Struktur durchleuchten. Aber auch der, der mit der Sprachlehre nicht vertraut ist, merkt es sofort, wenn ein Satz unvollständig ist oder Wörter falsche Endungen haben und die Beziehungen irgendwie gestört sind.
Auch Märchenmotive müssen einen „richtigen" Zusammenhang ergeben, und die Märchen müssen gewissen Grundregeln gehorchen. Entscheidend ist für sie, daß sie vom Diesseits in eine andere Welt hinübergreifen, in der mythische Wesen zu Hause sind, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, sondern aus alten Elementen des Volksglaubens und der Phantasie stammen. Es gibt viele Bilder für diese andere Welt, die jenseits vom Diesseits liegt. Sie ist einmal ein verzaubertes unterirdisches Schloß, ein Hexenhaus mitten im Wald, eine Teufelsmühle oder ein Teufelswirtshaus, ein umhegter Garten, in dem ein Löwe einen Ölbaum bewacht, das Heilige Land, in dem das Kräutlein des Lebens wächst usw. Der Sinnbildgehalt ist es, der den Märchen ihren eigentlichen Reiz gibt, obwohl er nicht mehr klar zu erkennen, sondern nur zu erahnen ist.
Es würde zu weit führen, genauer zu erklären, daß die Zahlen im Märchen 7, 12 und 3, 9 alte Kalenderzahlen sind und daß die mythische Weltordnung die Zeit und den Raum sinnvoll gliedert und sich Gedanken über den ewigen Wechsel von Licht und Dunkel, Leben und Tod macht und sinnbildhaft darstellt. Die Riesen und Zwerge, die Hexen und Teufel, der neunköpfige Drache und die sprechenden Tiere, all diese verschiedensten Zauberwesen sind Machte der Außenwelt, die unsere Menschenwelt bedrohen, aber auch helfend eingreifen können, wenn ein Märchenheld sich als würdig erweist.
Ganz anders als in den Dämonensagen sind die Hexen und schreckenerregenden Gestalten der Außenwelt nie dunkle Mächte, denen der Märchenheld wehrlos ausgeliefert ist, sondern er ist vom Schicksal dazu bestimmt, alle Gefahren zu überwinden und Sieger zu bleiben. Was anderen nicht gelingt, weil sie zu hochmütig und anmaßend, zu faul, zu selbstsüchtig oder zu feige sind, bringt er zu einem guten Ende.
Es ist gerade in unserer Zeit besonders wichtig, die Gefahren, die uns bedrohen, nicht zu leugnen, sondern einen Weg zu finden, sie zu überwinden. Die moderne Pädagogik hat erkannt, wie notwendig es ist, ein und dasselbe Märchen immer wieder zu erzählen, um die Widerstandskraft der Kinder zu stärken und sie von Angst zu befreien.
Die Pallanik-Ahnl hat ihre Märchen nicht erfunden, sondern vor etwa hundert Jahren als Kind gelernt und ihr ganzen Leben lang in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. Sie war nur ein Glied in der Kette der Überliefe-rungsträger, die aus dem mündlichen Erzählgut schöpften. Was ich vor 50 Jahren wortwörtlich nach ihrer Erzählung aufgeschrieben habe, habe ich meinen Kindern und Enkelkindern unzählige Male erzählen müssen, und auch sie wollten es immer wieder in der gleichen Form hören.
Die Buben hatten als Lieblingsmärchen den „Ichweißnicht" und den „Starken Hansl", während die Mädchen den „Ölzweig" und die „Zwölfte Tür" bevorzugten. Wäre es nicht schade, wenn diese köstlichen Geschichten für immer in Vergessenheit gerieten?


INDEX


* Elli Zenker-Starzacher: Märchen aus dem Schildgebirge, 1986 Universitätsverlag Ca-rinthia, Klagenfurt.